Weltweit gilt die italienische Küche als Inbegriff von Genuss und kulinarischer Perfektion. Und nichts ist in Italien so heilig wie die prodotto tipici, die regionalen Spezialitäten, die anerkannte Siegel wie DOC oder DOP tragen. Exportschlager wie Parmigiano Reggiano, Prosciutto di San Daniele oder Dolcetto d’Alba werden als nationales Kulturgut gehandelt.
Das Buch von Alberto Grandi „Mythos Nationalgericht – Die erfundenen Traditionen der Italienischen Küche“ ist ein Werk, das man fassungslos mit offenem Mund liest. Nicht etwa wegen der köstlichen und von ungezählt vielen Menschen auf der Welt geliebten, traditionellen italienischen Gerichte und Zutaten, um die es da geht. Sondern um die Erkenntnisse und Recherchen des Autors Alberto Grandi. Die Forschungen des Historikers zur Wirtschaftsgeschichte Italiens ergaben – um es kurz zu sagen – dass die italienische Küche noch keine 50 Jahre alt ist!
Was ist mit dem großen Pellegrino Artusi, dessen Rezepte in seinem Kochbuch „La Scienza in cucina e l’Arte di Mangiar bene“ (Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Genießens) von Generationen als das A & O der italienischen Küche schlechthin gesehen wurden? Alles heiße Luft?
Sein Skandal-Buch „Denominazione di origine inventata“/ Erfundene Herkunftsbezeichung von 2018, das nunmehr auch in der Übersetzung von Andrea Kunstmann in deutscher Sprache bei HarperCollins erschienen ist, erhitzt schon länger die Gemüter: Die viel gehypte Authentizität italienischer Produkte sei vor allem auf geschickte Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie in den Siebzigerjahren zurückzuführen. Deren angeblich uralte Herkunft sei schlicht erfunden. Parmesan, wie er früher einmal war, bekommt man mittlerweile nur noch in Wisconsin. Und die gern erzählte Geschichte der Modica-Schokolade, deren Rezept seinerzeit von zwei spanischen Soldaten aus Mexico nach Sizilien gebracht wurde, stimmt gar nicht? Kaum zu fassen!
Ein Professor zerstört die Mythen der italienischen Küche
Alberto Grandi zerlegt fünf Thesen zu der traditionellen italienischen Küche. Er geht weit zurück, auch beim Olivenöl, dessen Namensfindungen, Handels- und Vermarktungsstrategien so Einiges mit dem edlen, reinen Naturprodukt angerichtet haben. Mit dem Buch brachte er das nationale Selbstverständnis seines Landes ins Wanken, die Empörung reichte bis in die Regierungskreise und über die Landesgrenzen hinaus. Offenbar ist Parmesan politisch, Nationalismus beginnt möglicherweise manchmal auch auf dem Teller…
Mit profundem Wissen und Humor zerlegt Grandi genüsslich unseren alten Glauben an die italienische Traditionsküche… zum Glück gibt es am Ende der insgesamt 256 Seiten noch einen Faktencheck und Literatur für Zweifler.
Das Buch hat keine Bilder, es liest sich wie ein Krimi, die Ehrlichkeit Grandis ist aufwühlend, Bilder stellen sich im Kopf ganz von selbst ein. Sein „Glossar der Siegel und Ursprungsbezeichnungen“ bringt Licht ins Dunkel – ob man seinen Lieblingswein danach anders genießt… wer weiß!
Am besten ist es, man kocht sich nach dem Lese- & Schock-Erlebnis erst einmal eine große Portion Pasta… oder einen Steinpilz-Risotto – nach dem Rezept von Artusi!
Informationen:
Mythos Nationalgericht: www.harpercollins.de
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