Eine Ausnahme bildet, neben der Nachbarstadt und einstigen Staufer-Hochburg Melfi und dem mächtigen Kastell Lagopesole die Kleinstadt Venosa. Und dies hat vor allem einen Grund: Hier erblickte einer der berühmtersten Dichter und Satiriker der römischen Antike das Licht der Welt: Horaz, mit komplettem Namen Quintus Horatius Flaccus (65 v. Chr. – 8 v. Chr.), Zeitgenosse des Kaisers Augustus und nie auf den Mund gefallen.
Damals hieß Venosa noch Venusia und war dank der Via Appia und Nebenwegen mit Canosa in Apulien und den Hafen Brindisi wichtigster Ort am italienischen Stiefelabsatz. Besucher kommen vor allem hierher, um jene Monumentalstatue des Dichterfürsten zu bewundern, die der aus Neapel stammende italienischen Bildhauer Achille D`Orsi (1845 – 1929) geschaffen und die 1898 auf dem Platz vor dem Rathaus der Stadt mit viel Pomp enthüllt wurde. Inmitten der Corona-Pandemie entschlossen sich dann die Stadtoberen, Denkmal und Statue akribisch zu restaurieren. Diese nun wieder glänzende Statue auf meterhohem Sockel wurde am 17. Juli 2022 erneut enthüllt – und so hat Venosa sein bekanntestes Wahrzeichen zurück. Staunend steht man vor dem bekränzten Herrn, der zu Lebzeiten keinem Spott aus dem Wege ging, allerdings über / Venosa Venusia so gut wie nie ein schriftlich fixiertes Wort verlor.
Der Grund ist einleuchtend: Zwar wurde Horaz in Venosa geboren, doch verließen er und seine Familie die florierende römische Verwaltungsstadt schon in seiner frühen Kindheit. Dennoch: Seinen bekanntesten Denkspruch kennen bis heute viele: „Carpe Diem“ („Nutze den Tag“) hat zurecht 2000 Jahre europäische Kulturgeschichte überlebt. Weniger bekannt ist, dass Horaz auch selbstironisch sein konnte. Sein von ihm gewählter Zusatzname „Flaccus“ bedeutet schlicht „Schlappohr“.
Nur wenige hundert Meter sind es dann vom Rathausplatz hinauf zu der nach Italiens zweitem König der Neuzeit benannten Piazza Umberto I, die hier vor Ort alle nur Piazza Castello, Burgplatz nennen. Am Platz steht u. a. die barocke, ab 1679 erbaute Chiesa del Purgatorio (Fegefeuer-Kirche). Und über dem Eingang zur Kirche, die auch Chiesa di San Filippo Neri genannt wird, findet man einen Schädel und samt einem weiteren legendären Merkspruch des antiken römischen Dichters: „Pulvis et umbra“ („Staub und Schatten“), dies werden am Ende ihres Daseins alle Menschen sein!
Die Piazza Castello/Piazza Umberto I ist der ideale Ort, um vor oder nach dem Besuch des sehenswerten Burgmuseums von Venosa eine Pause im Caffé 41 Piazza Umberto an der Piazza Umberto I 1, wahlweise auch im Plaza Caffé (Piazza Umberto I 24) oder im Caffé Mojito Bistro (Piazza Umberto I 34) einzulegen. Hier wird man mit kalten und warmen Snacks, Salaten und kühlen Getränken unter Sonnenschirmen verwöhnt und genießt die prächtige Kulisse der Burgmauern. Nahebei findet sich zudem die dem Dichter namentlich gewidmete Trattoria Locanda Oraziana für den etwas größeren Appetit. Wir entscheiden uns für das Caffé 41 und sind mit Service und Gerichten hochzufrieden.

Und tatsächlich zieht es uns nach dem Besuch der neugestalteten Ausstellung im Burgmuseum zur eigentlichen Sensation in Venosa – die weitaus weniger bekannt ist. Es handelt sich um den Komplex der einstigen Abtei Santissima Trinità di Venosa (Kloster der Allerheiligsten Dreifaltigkeit Venosa), samt großzügig angelegtem Archäologischer Park. Dies alles liegt einige Kilometer vor den Toren der Stadt, ein Komplex mit ausgegrabenen Ruinen der antiken römischen Siedlung, inklusive Thermalbädern, der alten Klosterkirche mit später erbauter Glockengiebelwand und dem sich rückwärtig anschließenden Wunderwerk der sogenannten „unvollendeten Kirche“.
Die alte Klosterkirche weihte 1059 kein Geringerer als Papst Nikolaus II. ein. Tatsächlich enthält dieser romanische Kirchenbau sogar Elemente, die antik römischen und griechischen, aber auch langobardischen und normannischen Ursprungs sind. An der unvollendeten Kirche wurde von 1135 bis 1297 gewerkelt, um sie dann als Ruine den Zeitläuften preiszugeben. Und diese spektakuläre Ruinenlandschaft ist bis heute das Pilgerziel für Archäologen, Architekten und wissbegierigen Besuchern aller Welt, die hier in situ entdecken können, wie im Spätmittelalter in Süditalien solche kathedralartigen Bauten entstanden.
Dazu kann man auch noch einige Fußbodenmosaiken in der dem Kloster vorgelagerten antike römischen Stadt Venusia entdecken, die von der republikanischen römischen Zeit bis ins frühe Mittelalter existierte und dann zugunsten des höher gelegenen heutigen Venosa aufgegeben wurde. Direkt gegenüber ist zudem die Silhouette des einstigen antiken Amphitheaters zu erkennen, aus dem viele Steine für den Bau der unvollendeten Kirche stammen.
Erst einmal bewundern wir das Eingangsportal des Südeingangs zur unvollendeten Kirche, über dem in der Lünette das Relief einer „Hand samt dem Finger Gottes“ und lateinische Inschrift erkennbar wird. Im Inneren der zum Himmel offenen Freiluftruine beeindruckt u. a. ein dekorierter Eckstein mit zwei Greifen und einem Fisch dazwischen. Er stammt aus der Zeit der Normannen und wurde im romanischen Stil gefertigt. Imposant sind dann auch die dekorierten Säulenkapitelle, die im 13. Jh. bereits fertiggestellten Apsis-Halbrunde oder der eingemauerte Grabstein für die Familie des Politikers Lucius Cornelius Cinna, der 85 v. Chr. Konsul noch in römischer republikanischer Zeit war. Bemerkenswert ist auch ein antikes dreieckiges Steinfragment mit Relief des römischen Gottes der Winde, das wie vergessen an einer Kirchenwand lehnt.
Dann geht es weg von diesem Ort voller Geheimnisse in die alte Klosterkirche, deren Portal einst von Löwen gesäumt war. Das Innere beeindruckt mit reichen Fresken an Säulen und Wänden und wartet mit Grablegen auf.
Keine Frage also: Wer etwas über Schlappohren, Eisenarme und Schlaumeier wissen möchte, dazu die römische Antike und das Mittelalter schätzt und sich von den lokalen kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnen lassen möchte, der ist im beschaulich schönen Venosa goldrichtig!
Fotos: Ellen Spielmann