Perfekt gezwirbelter Schnurrbart, strenger Blick. Kein geringerer als Wilhelm II. wacht über die Gäste. Das bronzene Konterfei des einstigen deutschen Kaisers thront an der Wand im „Lorenz Adlon Esszimmer“. Schließlich ist seine Person mit der Geschichte des legendären Hotels, in dem sich das Zwei-Sterne-Lokal befindet, eng verwoben.
1907 war der Monarch Ehrengast bei der Einweihung des Adlon. Endlich hatte auch Berlin eine würdige Unterkunft für jeglichen hohen Besuch aus dem In- und Ausland. In bester Lage, Unter den Linden, nahe dem Brandenburger Tor. Dann folgte eine Achterbahnfahrt durch die Höhen und vor allem Tiefen der neueren deutschen Geschichte. Auferstanden aus Ruinen. Hier hat sich die Nationalhymne der DDR wie wohl kaum sonst bewahrheitet.
Und mit dem „Lorenz Adlon Esszimmer“ im ersten Stock hat das Hotel eine wahrlich feudale Fine-Dining-Option. Holzgetäfelte Wände, eine Bibliothek, ein Kamin. All das sorgt in dem nicht allzu großen Raum für eine gediegene und stilvolle Atmosphäre. „Intim und familiär“, so Restaurantleiter Oliver Kraft. Genau deswegen wurde 2011 dem „Lorenz Adlon“ der Zusatz „Esszimmer“ verpasst. Eigentlich pures Understatement, „Speisesalon“ würde besser passen. Nicht nur wegen des Ambientes. Warten doch gleich sieben ausgezeichnete Gänge auf die Gäste, zubereitet von Reto Brändli. Der Spitzenkoch aus der Schweiz hatte dem Gourmet-Lokal im März 2024 erneut zu seinem zweiten Michelin-Stern verholfen.
Welcher Wein darf es sein? Die opulente Getränkekarte lässt keine Wünsche offen. 70 Seiten. Erlesene Brände, edler Whisky und Wein, Wein, Wein. Chefsommelier Hans-Martin Konrad empfiehlt einen „Châteauneuf du Pape“, vom Weingut „A.C. Clos des Papes 48“, aus der französischen Rhone-Region. Ein Cuvée aus Grenache, Syrah, Mourvèdre und Cinsault. Fruchtig, komplex, nicht allzu trocken, nicht allzu schwer. Mit Noten von Zimt, Muskatnuss, Quitte und schwarzer Johannisbeere. Perfekt, ganz wie gewünscht.
So wie der Champagner, der als Aperitif gereicht wurde. Ein Rosé, ebenfalls aus Frankreich. Von „De Sousa et Fils“ aus dem Herzen der Côte des Blancs, einem renommierten Anbaugebiet in der Champagne. Der dominierende Chardonnay-Anteil sorgt für eine fruchtige Frische, mit Aromen von roten Beeren und Apfel.
Passt gut zu den Einstimmungen vor dem Menü. Gleich mehrfach lässt die Küche grüßen, sehr international, sehr köstlich, begleitet von warmen Dinkel-Sauerteigbrot samt leicht gesalzener Buttermilch-Butter. Der erste Gruß sorgt für Erstaunen. Ein einfaches Ei? So wie man es vom Frühstück her kennt? Von wegen. Der Löffel stößt auf confiertes Eigelb, auf Hühnerleber-Crème und geräucherten Kartoffelschaum. Samtig die Textur, pikant bis mild die Aromen. Ein kulinarisches Wunderwerk, in einem sehr originellen Gewand.
Nach Mexiko entführt ein Taco. Nur nicht aus Mais, sondern aus Linsen. Als Füllung dient gebeizter Lachs und Forellen-Kaviar statt das übliche Einerlei, ob Huhn, ob Rind. Jalapeño, gekonnt dosiert, verleiht dem Ganzen eine leichte Schärfe. Ebenso gelungen der Abstecher in den Orient. Eine Tartelette, mit Muhammara, einer Paste aus Paprika und Walnüssen. Ferner eingelegten Zwiebeln und Baba Ganoush, ein Püree aus Auberginen und Sesam-Paste.
Kleine kulinarische Kunstwerke. Eine Art Ouvertüre vor der großen kulinarischen Opern-Aufführung. Die umfasst gleich sieben Gänge, mit einem Preis-Leistungs-Verhältnis, das man wirklich nur als äußerst fair bezeichnen kann. Reto Brändli setzt dabei auf klassische französische Küche mit den Aromen und der Leichtigkeit Asiens.
Und klassische Zutaten, überwiegend in Bio-Qualität. Sein Lieblings-Produkt: Zitrusfrüchte. Genauso hat er auch sein Dessert getauft. Mit seiner Zitronentarte zündet er ein wahres Feuerwerk. Erscheinen doch die Vitamin-C-Bomben, die auf dem Mürbeteig thronen, in den verschiedensten Gewändern. Frisch eingelegt, eingesalzen, süß, salzig und, natürlich, sauer. Die Früchte stammen übrigens aus den französischen Pyrenäen.
So französisch die Tarte, so fernöstlich das Eis dazu: Amazake. Ein in Japan zunehmend beliebtes fermentiertes Getränk aus Reismalz, nahrhaft und sehr gesund. Muss ja nicht immer Erdbeere oder Vanille sein. Dazu noch Karamell mit fermentiertem Reis, weißer Schokolade und Fenchelpollen. Ferner ein Sud aus Dill mit Ahornsirup und einem ganz besonderen Saft. Von der Meyer-Zitrone.
Ungewöhnlich der Name, noch ungewöhnlicher, dass diese Frucht, benannt nach dem amerikanischen Pflanzenzüchter Frank Nicholas Meyer, eigentlich gar keine Zitrone ist. Sondern vielmehr ein Hybrid aus Zitrone und Orange. Ausgezeichnet auch das zweite Dessert. Kasutera, ein Biskuitkuchen, eine Spezialität aus Nagasaki. Hier wurde er gedämpft und in Nussbutter gebraten. Dazu Kinako-Eis aus gerösteten Sojabohnen.
Zitrusfrüchte. Eine entsprechende, leichte Note durchzieht auch so manchen Hauptgang. Bei dem bretonischer Wolfsbarsch etwa ist es die Orange, die sich in allen möglichen Facetten zeigt. Mit Salz, eingelegt, als Zeste, also kleine Streife aus der Schale, als „Beurre Blanc“, einer weißen Buttersoße.
Weitere Beilagen: Miso, Radicchio und Leinsamenchips. Kohlrabi, gepickelt und glasiert. Und Chicorée, in Orangensaft geschmort. Ein herrliches Zusammenspiel aus allen erdenklichen Aromen: Säure, Schärfe, leichten Bitternoten und fruchtiger Süße.
Der Wolfsbarsch selbst wurde auf den Punkt gebraten. Das feinaromatische, praktisch grätenfreie Fleisch herrlich fest und saftig, die Haut wunderbar kross. Ähnlich wie beim Steak wurde auch der Fisch „dry aged“, eine Woche, in einem Reifeschrank. Eine in Spitzenlokalen zunehmend beliebte Praxis. Die Frische bleibt erhalten, die Aromen werden intensiver. Weitere Meeresbewohner erreichen ebenfalls höchstes Niveau. Die „Carabinero Rosso“ aus Portugal umweht ein Hauch von Exotik. Es sind gegrillte Tiefsee-Garnelen, ganz und als Tartar, die nun eine Mitarbeiterin serviert. Erneut spielt Retro Brändli gekonnt mit den Produkten. Hier ist es die Kokosnuss. Frisch, als Gel, als salziges Eis, als Beurre Blanc. Mit marinierten Mangos aus Thailand. Und einer Bisque aus Krustentieren.
Alles angenehme und sehr bekömmliche Gänge. Doch auch kalorienreicheren Gerichten verschafft der Küchenchef förmlich Flügel. So wie der Bio-Entenleber-Terrine aus der Landes. In dieser Region an der französischen Atlantikküste wird sie gerne mit Früchten gereicht. Das sorgt für kontrastreiche Aromen, für eine gewisse Leichtigkeit. Im „Esszimmer“ sind es Äpfel der Sorte Granny-Smith. In diversen Variationen. Eingelegt, gefroren und frisch. Als Vinaigrette mit Algenöl. Ferner Shiso, als Sorbet, als Gel und als gefrorene Perlen. Ein kulinarisches Gedicht.
Mit Geflügel geht es weiter. Eine Taubenbrust, kunstfertig verpackt, wurde sie doch als sogenannte „Ballotine“ serviert. Als Mantel dient ein hauchdünner Crêpe, als Füllung die Taubenbrust und ein Gänseleberkern. Das Tier stammt aus der Bresse in Frankreich, von Jean Claude Miéral. Die Region im Burgund ist bekannt für ihr exquisites Federvieh. Und gerade dieser Züchter gilt als eine Ikone für die Aufzucht von Wildgeflügel.
Von Frankreich geht es nach Ostfriesland. Von dort stammt das Short Rib. Ganze 24 Stunden geschmort, zerfällt es beinahe auf der Gabel. Dazu ein feines Ragout aus Rinderzunge, Ochsenschwanz und Rinderbäckchen. Mit Schnittlauch, Quinoa sowie Topinambur-Schaum. Topinambur. Dieses beliebte Wintergemüse passt einfach zu gut zu diesem Fleischgericht. Wohl darum wurde es gleich in weiteren Varianten serviert. Als Kompott und eingelegt.
Alles in allem ein Menü, so festlich und so fürstlich wie der Ausblick aus dem Fenster. Grandioser geht es kaum noch. Vor einem liegt der Pariser Platz mit dem Brandenburger Tor. Berlins Wahrzeichen leuchtet so hell wie das Konterfei von Wilhelm II. im Lokal. Über die Essgewohnheiten des Regenten ist nur wenig bekannt. Angeblich war er ein großer Ananas-Fan. Das heutige Menü hätte ihm vermutlich ebenfalls ausgezeichnet gemundet. Und eigentlich, bei näherem Hinsehen, blickt er doch ganz zufrieden auf die Genießer herab.
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Fotos: Fritz-Hermann Köser