Erst einmal dominiert hier natürlich in Richtung Nordwesten der Uralt-Vulkan Monte Amiata, dessen grandiose Kastanienwälder traditionsbewusste Einheimische durchaus auch „unsere Gärten“ nennen. Dann schweift der Blick weiter Richtung Nordosten hinüber zur grandiose Kulisse des einst mächtigen Dörfchens Radicofani, das stolz auf eiern Hügelkuppe steht. Während der Zeiten der Grand Tour besaß es den zweifelhaften Ruf, eine der gefährlichsten Übernachtungs-Stationen für vermögende Reisende zu sein. Nicht selten wurden sie damals ausgeraubt.
Und zu unseren Füßen erstreckt sich dann das Dächermeer der Altstadt von Piancastagnaio. Prächtig ist die Kulisse rund um den Uhrenturm, des Torre dell`Orologio an der zentralen Piazza dell’Orologio, prächtig sind die Kirchen, prächtig auch der 1603 vom Marchese (Markgraf) Giovan Battista Bourbon del Monte errichtete Palast! Allerdings. Er ist eingerüstet, wird derzeit aufwendig restauriert. Dies tat auch Not, denn jahrelang war der baufällige Palazzo samt angrenzendem Garten verwaist. Es hatten sich sogar schon Legenden um den Brunnen im Belvedere des Palazzo gebildet: Er wurde „Piatto delle Streghe“ genannt, ein Ort, wo sich „Hexen“ trafen. Aber, „tempi passati“, lange ist es her. Und wir eilen die Stufen wieder hinab in Richtung Erdgeschoss des Kastells, das ab 1208 von den Aldobrandeschi, nicht ohne nochmals einen Blick auf die bemerkenswerten Ausstellungsobjekte zu werfen, die Piancastagnaios Geschichte illustrieren und zudem regelmäßig durch weitere Sonderausstellungen aufgewertet werden.
Eines der schönsten Objekte ist dabei ein sehr moderner, wunderschöner, von einem Künstler bemalter Keramikteller. Und mit dem hat es eine besondere Bewandtnis: Dieser „Cupello“ genannte Teller wurde für das größte Ereignis im Jahreslauf von Piancastagnaio, den Palio gefertigt. Denn jährlich vom 1.8. bis zum 18.8. steht ganz Piancastagnaio Kopf. Dabei geht es aber nicht nur um das Pferderennen und um den Siegespreis, den Palio aus Seide. Denn das Rennen findet ganz zum Schluss der Festivitäten, am 18.8. statt. Der jährlich neu von einem lokalen Künstler oder eiern Künstlerin geschaffene „Cupello“ hingegen wandert in den Besitz jenes Stadtviertels, einer Contrade, die sich während der gesamten Festivitäten am allerbesten zu präsentieren vermag. Dieser „Cupello“ ist somit mindestens so heiß begehrt wie der Palio selbst. Denn die Regularien sind streng, schließlich geht es beim Palio längst nicht nur um sportliche Ehren. Verlesen werden z. B. am 17.8. direkt an der Piazza della Rocca alljährlich die ersten Stadtstatuten von 1416!
Und natürlich müssen sich die Vier Stadtviertel von Piancastagnaio den strikten Statuen des Palio unterwerfen. Angefangen bei der Wahl der historischen Kostüme, die auf die lange, mindestens bis ins 16. Jahrhundert zurück verfolgbaren Ursprünge des Palio verweisen, bis hin zur Präsentation der Viertel zu den Umzügen, ist alles im Detail geregelt. So drohen schon schärfste Punktabzüge, wenn auch nur ein Teilnehmer eine Brille trägt! Denn die war dem einfachen Volk im 16. Jahrhundert einfach nicht zugänglich. Und wer in Turnschuhen aufläuft, muss gleich direkt die Disqualifikation fürchten. Für die Umsetzung sorgen die Contrade, die Palio-Vereine der Stadtviertel. Dies sind die Contrade Borgo mit gelb-blauem Wappen mit schwarzem Pferd, die Contrade Coro mit rot-schwarzes Wappen mit goldenem Adler, die Contrade Castello mit rot-grünem Wappen mit goldener Burg und die Contrade Voltaia mit schwarz-weißem Wappen samt Eiche im Stadttor.
Wir besuchen alle vier „Hauptquartiere“ dieser Contraden, die sämtlich zu herrlichen Palio-Museen transformiert sind und stolz ihre Siegestrophäen vorzeigen – darunter natürlich auch die gewonnenen Keramikteller, die „Cupelli“. Zu bewundern sind natürlich auch die zum Palio in den Gassen aufgehängten historischen Leuchter, zahllose Dokumente, Fotografien und die Wahlsprüche der Contrade. Schön auch, dass auf einer solchen Treppauf-treppab-Museumstour auf den Spuren des Palio die restlichen Sehenswürdigkeiten von Piancastagnaio nicht zu kurz kommen.
Da sind z. B. das Rathaus, der Palazzo Comunale aus dem 13. Jahrhundert, sowie der Palazzo del Podestà aus dem 15. Jahrhundert, beide am Platz des Uhrturms im Stadtviertel Borgo. Und da sind z. B. die Kirchen, etwa die Chiesa della Madonna delle Grazie im Ortskern, dem Borgo, mit Fresken von 1468 von Nanni di Pietro und einem weiteren Freskenzyklus. Oder die dem Ortsheilgien San Filippo Neri geweihte Chiesa di San Filippo Neri, die im Ortsteil Castello steht. Und da sind natürlich die Stadttore in der historischen Stadtmauer.
Ein besonderes Augenmerk verdient auch das Büro der einstigen Bergleute der Grube Siele. Diese Vereinigung Argus Piancastagnaio veranstaltet ab der Piazza Matteotti Touren in den Nationalpark der Minenmuseen am Amiata, vor allem zum einstigen Bergarbeiterdorf Siele, das sich südlich von Piancastagnaio in Richtung Castell`Azzarra befindet. Am spektakulärsten aber bleibt natürlich der Palio, der vor allem auch von der historischen Konkurrenz der beiden Ortsteile “ Kastell“ (Castello) und Borgo (Bürgerviertel) lebt. Und der Borgo besitzt auch eine der größten Versammlungsstäten im Ort. Hier speisen wir zu Mittag, natürlich traditionell Pici mit Wildschweinragout – eine Top-Amiata-Delikatesse. Und natürlich muss man auch vom Palio-Wein probieren, der extra jährlich aufgelegt wird.
Informationen:
Pro Loco di Piancastagnaio, www.prolocopiancastagnaio.it
Toscana Promozione Turistica, www.visittuscany.com
Fotos: Ellen Spielmann