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Palio und Pandolce, Pistolen und Propheten (Teil 1)

Doch die Gemeindefläche ist mit 67,77 km² ziemlich groß und vereint Gebiete von nur 93 m über dem Meeresspiegel bis hinauf auf 1738 m Höhe. Olivenhaine und Weinberge bis in 500 m Höhe, darüber Kastanienwälder, die geschützte Esskastanien von IGP-Qualität liefern. Dann geht es ab 1000, 1100 m Höhe hinauf bis zum Gipfel des Monte Amiata, den sich die stolzen Bürger von Castel del Piano mit den nicht minder stolzen Bürgern aus Abbadia San Salvatore auf der Westseite des Mega-Vulkans teilen, der einst weitaus höher war und letztmals vor 180.000 Jahren ausbrach. Sein Name, Amiata, soll, einer 1986 von einer Professorin aus Pisa entwickelten Theorie zu Folge sogar vom deutschen Wort „Heimat“ entlehnt sein. Diesen Begriff nutzten wohl die Langobarden ab dem 6. Jahrhundert, der dann später wohl korrumpiert zu „Amiata“ wurde.

Aber dies ist natürlich nur eine Theorie, ebenso könnte man uralte Namensbezeichnungen für den Vulkan wie Mons Tunii, Mons Tuniatus und Mons Ad Meata zu Rate ziehen. Wei auch immer, in Castel del Piano ist der Berg heute vor allem von großer Bedeutung, weil er gemeinsam mit dem Orcia- Fluss für ein besonderes Mikroklima sorgt. Und dies hat sich herumgesprochen. Insbesondere Menschen aus Norwegen und Australien haben die besondere Lage und die besondere Lebensqualität des Amiata-Gebietes für sich entdeckt und sich in und um Castel del Piano kräftig mit Grundbesitz eingedeckt. Dies hat tatsächlich auch zu einem erneuten Aufschwung in den sieben Berggemeinden rund um den Bergkoloss geführt.

Von Dornröschenschlaf im Hinterland der toskanischen Superziele wie Siena oder Florenz kann überhaupt keine Rede sein. Castel del Piano ist zwar winzig, aber pulsiert: etwa an der Via Marconi 2 vor und in der Panetteria e Pasticceria Corsini, dem idealen Treff in Castel del Piano. Hier kann man zu Caffé und Cappuccino grandiose süße Leckereien aus dem Hause Corsini kosten, deren Bäckerei schon seit 1921 existiert. Heute sind Biscotti und Cantuccini, Pandolce, Panettone und süßen Verführungen der Familie Corsini längst nicht mehr nur ein Aushängeschild des Monte Amiata. Die Bäckerei Corsini ist zur Weltfirma gewachsen, exportiert in über 25 Länder und steht, zigfach prämiert, für allerbestes „Made in Italy“ auf allen Kontinenten.

Vor den Törtchen ein Spaziergang. Foto: Ellen Spielmann
Vor den Törtchen ein Spaziergang. Foto: Ellen Spielmann

Doch bevor wir uns den leckeren Erdbeer- oder Marzipantörtchen spazieren wir erst einmal zur nur 200 m entfernten, wie die Piazza Grande in Siena muschelförmig angelegten Piazza Garibaldi mit ihrem riesigen Obelisken des am 11.9.1883 enthüllten Garibaldi-Denkmals und der mächtigen Brunnenanlage der Fontana Grande. Denn hier findet – seit 1968 – das wohl größte Ereignis im Jahreslauf von Castel del Piano statt: der Palio! Menschenmassen drängeln sich jedes Jahr am 8. September auf dieser Piazza, um das exakt nach dem Vorbild von Siena abgehaltene Pferderennen begeistert zu feiern.

Schriftlich bekannt ist der Palio eigentlich erst seit 1771, und irgendwann schlief diese Tradition auch wieder ein. Aber dann kam eben der neue Aufbruch von 1968. Und seither kämpfen die Reiter der vier Contrade, sie repräsentieren die vier Stadtteile Borgo (in den Farben Rosa und Violett), Monumento (Rot und Blau), Poggio (Gelb und Grün) sowie Storte (Weiß und Schwarz) um die höchste der Ehren am Monte Amiata.

Welchen Stellenwert das Ereignis hat, zeigt sich auch der Besuch im schmucken historischen Rathaus an der Via Marconi 9. Hier, in der Sala Consigliare im Erdgeschoss des Palazzo Comunale, wurde 2020 ein neues Palio-Museum eingerichtet. Gemälde, vor allem aber die historischen wie historisierenden Kostüme und auch die künstlerisch gestalteten Sturzhelme der Fantini beeindrucken am meisten. Einmal im Rathaus, sollte man sich zudem nicht den Blick in die historische kommunale Bibliothek, die Biblioteca Comunale versäumen und schon gar nicht die Begehung der spektakulären, perfekt restaurierten Rathauskellers, der auch schon ein ehemaliges Weinlager war.

Palazzo Nerucci. Foto: Ellen Spielmann
Palazzo Nerucci. Foto: Ellen Spielmann

Die größte Attraktion in Castle del Piano ist aber der Palazzo Nerucci, dessen spektakuläre, 1564 entstandene Außenfassade man schon von der Piazza Madonna aus bewundern kann. Zum Haupteingang geht es aber erst einmal durch das alte historische Stadttor Porta Pianese, die wegen des herrlichen Uhrenturms über dem Durchgang auch Porta dell`Orologio genannt wird. Denn der Palazzo ersetze hier einst die historische Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert. Großartig ist dann an der Piazza Colonna schon rein äußerlich betrachtet die herrliche Loggia della Mercanzia von 1554, rechterhand des Palastes, der sich die Kapelle Cappella della Concezione anschließt.

Hier trifft man sich im Sommer zum Klönen, die Osteria gegenüber stellt Tische auf und lädt zum gargantuesken Mahl. Lange hat der Palast als örtliches Gymnasium gedient, ehe er ab 2004 zum Domizil einer berühmten Musikschule wurde und dann ab 2006 seine Tore für die 1883 dem Krankenhaus von Castle del Piano vermachte Kunstsammlung der Familie Vegni zugänglich machte. Neben dieser einstigen Privatsammlung, die herausragende Werke der über 200 Jahre am Monte Amiata dominanten Künstlerfamilie der Nasini besitzt und ein höchst beeindruckendes Selbstbildnis der Malerin Rosalba Carriera (1675 – 1757) zeigt, fanden hier auch schon hochkarätige Sonderausstellungen zu Joan Miró (2019, Keith Haring, Andy Warhol und Pietro Psaier (2012) statt. Am spektakulärsten sind dann aber die Frühwerke des in Castle del Piano geborenen Malers und Künstlers Edo Cei, der seine Jugendwerke (1952 – 1978) seiner Heimatstadt stiftete. Diese Bilder und Plakate sind auch ein einzigartiges Potpourri durch die Sozialgeschichte des Bergdorfs – und laden jederzeit auch zum Schmunzeln ein.

Bronzeschild für Hugo von Tuszien an der Burg von Arcidosso. Foto: Ellen Spielmann
Bronzeschild für Hugo von Tuszien an der Burg von Arcidosso. Foto: Ellen Spielmann

Ein Besuch von Castel del Piano wäre nicht vollständig ohne den Rundgang durch die Altstadt, mit herrlichen Ausblicken ins Umland. Ursprünglich war sogar mal ein auch touristischer Rundweg außen entlang der historischen Stadtmauern geplant, aber die Idee wurde nur zum Teil umgesetzt. Dafür beeindrucken die in Stein gehauenen Hauszeichen über den Türen der jahrhundertealten Häuser – etwa eine aufgeklappte Schere. Hier hat wohl ein Schneider sein Handwerk betrieben. Es könnte aber auch die Behausung eines Schafscheres gewesen sein. Gegenüber beeindruckt an der Via dell`Arcipretura das lokale Theater Teatro Amiatino aus dem 19. Jahrhundert, das in einer Uraltkirche aus dem 13. Jahrhundert eingerichtet wurde. Hier ist bis heute das örtliche Kulturleben lebendig, auch Kinovorführungen fanden schon statt. Nebenan befand sich einst sogar ein Pilgerhospiz für Reisende in Richtung Rom.


Information:

Uffizio Informazione Turistiche, www.comune.casteldelpiano.gr.itwww.comune.casteldelpiano.gr.it/home/vivere.html 

Touristische Informationen Provinz Grosseto: www.provinciagrosseto.com 

Informazioni turistiche Grosseto (Info Point Grosseto)/Tourismusbüro Maremma Toscana, https://quimaremmatoscana.it/

Toscana Promozione Turistica, www.visittuscany.com 

Fotos: Ellen Spielmann