Aber das Restaurant war seiner Grundidee nach aus unserer Sicht eine – im besten Sinne – urbane Adresse, die ein ebensolche Publikum verlangt. Auch wenn das Ambiente des umgebauten, ehemalige Rittersaals damals noch einen fast rustikalen Charme versprühte.
Nun ist Bad Ragaz aber eben nicht Zürich, sondern, trotz der räumlichen Nähe zu Chur und der Bündner Herrschaft, eher St. Galler Provinz und wir waren deshalb nicht sicher, ob das IGNIV-Konzept hier, trotz des großen Namens im Hintergrund, langfristig zünden würde. Nun, wir haben uns geirrt. Sieben Jahre später prangen über dem Ur-IGNIV nämlich gleich zwei Michelinsterne und Caminadas Stadthalter Silvio Germann und sein Team haben sich, was noch viel wichtiger ist, in dieser Zeit ein treues Stammpublikum erarbeitet. Deshalb ist es mitunter gar nicht so einfach dort einen Tisch zu ergattern. Mit den mittlerweile – unabhängig von Caminada – im Grand Ressort hinzugekommenen Restaurants Memories (2*) und Verve (1*), beide unter Ägide von Sven Wassmer – selbst ehemaliger Caminadaschüler – hat sich das Grand Resort mittlerweile gar zu einer der ersten kulinarischen Adressen der Eidgenossenschaft gemausert. Wo lag gleich nochmal dieses Zürich?
Doch zurück zum IGNIV. Von dem gibt es mittlerweile auch einen saisonalen Ableger in St. Moritz, eine fast schon mondäne Filiale in Zürich und seit neuestem sogar in Bangkok. Nach so einer fulminanten Erfolgsgeschichte war es da vielleicht fast schon absehbar, dass Silvio Germann als Mann der ersten Stunde und längst flügge geworden, früher oder später zu neunen Ufern aufbrechen würde. Schließlich bedeutet der rätoromanische Begriff IGNIV, wörtlich übersetzt, Nest und irgendwann ist es einfach Zeit, eben dieses zu erlassen. Doch keine Angst: Germann wird dem Caminada-Kosmos erhalten bleiben und ein neues Projekt des Bündner Spitzenkochs im Thurgau unweit des Bodensees übernehmen. Dazu später an anderer Stelle mehr.
Germanns Nachfolger in Bad Ragaz, der gebürtige Züricher Joël Ellenberger, ist allerdings natürlich ebenfalls kein unbeschriebenes Blatt, sondern war zuletzt Sous-Chef in Caminadas prestigeträchtigem 3*-Restaurant im Schloss Schauenstein, nachdem er den IGNIV-Spirit zuvor schon im St. Moritzer Palace aufgesogen hatte. Francesco Benvenuto, kongenialer Sommelier und früher auch Gastgeber, wird dem IGNIV in Ragaz dagegen erhalten bleiben und darf zur Freude der Gäste somit weiterhin seiner Passion für großformatige Flaschen nachgehen. Die Rolle der Gastgeberin übernimmt künftig aber die nicht minder sympathische Susanne Schneider – ebenfalls ein Neuzugang aus Fürstenau. Mit dem Wechsel am Herd wurde das Restaurant übrigens auch einem ästhetischen Makeover unterzogen, für das Interior-Design zeichnet sich Ikone Patricia Urquiola verantwortlich. Alles ist jetzt noch ein wenig witziger, frecher und stylischer.
Übrigens ist das mittlerweile omnipräsente Sharing-Konzept in Wahrheit eigentlich ein Aufguss des irgendwann im 19. Jahrhundert aus der Mode gekommen Service à la française, bei dem alle, oder zumindest eine Vielzahl von Gerichten in drei vis vier Etappen gleichzeitig aufgetischt wurden. Sozusagen ein Buffet en miniature in mehreren Durchgängen. Der Service à la russe hingegen, also das Servieren einzelner Gerichte in Tellerportionen nacheinander, ist – historisch betrachtet – eigentlich die modernere Form der Tafelkultur. Aber wir wissen ja grade aus der Mode: alles kommt irgendwann wieder.
Immerhin muss sich bei der Vielzahl der Schüsseln und Tellerchen, die im IGNIV im Laufe eines Abends auf den Tischen landen, niemand ärgern «das Falsche» bestellt zu haben, weil man schlicht von allem kosten kann, was die Küche zu bieten hat. Wenngleich selbst geübte Esser hier an ihre Grenzen stoßen. Insbesondere wenn man neben den vier regulären Gängen – was dann inklusive Amuse Bouche je nach Lust und Laune der Küche schon mal ca. 25-30 Miniportionen entspricht – noch die diversen angebotenen Extras dazu bestellt.
Natürlich haben auch wir uns anlässlich der Übergabe des Staffelstabes in der IGNIV-Küche nach Bad Ragaz aufgemacht, um das erste Menü aus der Feder von Joël Ellenberger zu verkosten – und das trägt ganz klar die Handschrift der Caminadaschule mit ihrem stets perfekt austarierten Spiel von Süße und Säure, die allen Gerichten diesen besonderen, Caminada typischen Frischekick verleihen. Hier nun alles aufzuzählen, was an so einem IGNIV-Abend aufgetischt wird, ist eigentlich sinnlos, die Frage ist eher: was gibt es nicht. Nur so viel vielleicht: Ab und an mischen sich auch klassische Elemente in die Speisenfolge, so z.B. eine perfekte Entenleberterrine und himmlisch buttrige Brioche. Tonangebend aber sind Gebeiztes, Fermentiertes oder Rohes, das den Hauptdarstellern auf dem Teller eben jene unverwechselbare Caminada-Aura verleiht. Absolutes Highlight des Abends war für uns aber die aromatisch enorm dichte, trotzdem fast ätherisch leichte Fischsuppe – eigentlich eher eine Nage mit deutlichem Krustentiereinschlag – die Ellenberger mit rohem Forellenfilet kombiniert. Dieses Gericht wäre auch dreier Sterne würdig. Guten Appetit!
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Fotos: IGNIV-Restaurant Grand Ressort Bad Ragaz