Schön, dass die Landstraße 302 die 33 Kilometer hinauf ins Bergstädtchen Marradi gut befahrbar ist. Die Serpentinenfahrt ist dank üppig bewaldeter Hügelkuppen und sattgrüner Bergwiesen ein Erlebnis. Aus dem 65 Kilometer entfernten Florenz spätestens seit der Corona-Pandemie die Besucher: Dafür sorgen perfekt ausgebaute Reit-, Wander- und Radwanderwege, aber kulinarische Leckerbissen. Denn den Alto Mugello, den Hoch-Mugello erschließt die Strada del Marrone, die Straße der Esskastanie, die als Marrone del Mugello geschützt ist.
Marradis lokale Marron Buono, die gute Esskastanie, genießt sogar Extraschutz. So müssen es mindestens 80 frische Kastanien pro Kilo sein, ehe die Marroni in den Verkauf dürfen. Vor Ort kümmert sich ein Konsortium um die Esskastanie, der Oktober steht zum Kastanienfest ganz im Zeichen dieses toskanischen „Brotbaums“. Top sind auch das Kastanienmehl Farina di Marrone del Mugello, dazu Pasta aus Esskastanienmehl, etwa Tortelli di Marroni, der Esskastanienkuchen Castagnaccio, die softe Esskastanientorte, Esskastaniencreme und -honig und die Rarität Esskastanienessig: perfekt zu warmem Gemüse.

Der Alto Mugello ist auch für Bio-Dinkel, Safran, weiße Trüffel und weiße Kartoffeln berühmt, auch für Wodka, Gin und Wermut. Hotspot dieser Kastanienmanie ist die 2900-Seelen-Gemeinde Marradi, die rund um die Bar Centrale am Rathausplatz mit vielen Palästen aufwartet. Im Palazzo Torriani (16. Jh.) empfängt Anna Maria Torriani ihre Gäste. Ihr Palazzo ist eine Fünf-Sterne-Residenza d`Epocha, gepflegtes Juwel wie Zeitkapsel der verblichenen Adelsepoche. Die Torriani zählen zu den ältesten italienischen Adelsgeschlechtern und landeten unfreiwillig in Marradi. Die aus der Schweiz stammende papstreue Familie, auch della Torre, da Torre und deutsch von Thurn genannt, regierte Mailand, ehe der Visconti-Clan sie 1281 und endgültig 1311 vertrieb. Danach verstreuten sich die Torriani in alle Himmelsrichtungen.
Ein Zweig landete in Marradi, das nah am Kirchenstaat und nur 35 Kilometer von der sicheren Stadt Faenza lag: ein idealer Zufluchtsort für Verfolgte. Geblieben ist von dieser dörflich entfalteten Pracht auch das nur Schritte entfernte Teatro degli Animosi, ein restauriertes Dorftheater von 1792 mit 257 Plätzen, zu dessen Wiedereröffnung gar Riccardo Muti erschien. Heute dient es für Ausstellungen wie zur Kostümbildnerin des Piccolo Teatro in Mailand, für Events und Theateraufführungen. Der Herrenzirkel der Accademia degli Animosi, der Akademie der „Beseelten“, trug, wie über dem Bühnenvorhang ersichtlich, die 1783 erstmals aufgestiegene Montgolfière, den ersten Heißluftballon der Geschichte, in ihrem Wappen. Auch Literatur wird in Marradi großgeschrieben. Dafür steht das Dokumentationszentrum Dino Campana. Dino Campana (1885 – 1932) galt als „Baudelaire Italiens“ und wurde durch seine „Canti Orfici“, die 1914 selbst verlegten „orphischen Gesänge“ berühmt.

Der Palazzo Torriani wartet indes in Salons und Suiten mit großartigen Liberty-Dekorationen auf, die Multikünstler Galileo Chini 1908 schuf. Und da sind noch die historischen Rezepte des legendären Hauskochs Martino, die nun um in der wunderbaren Kochschule oder am Frühstücksbuffet Wiederauferstehung feiern. Etwa mit dem Budino di Marrone, dem fluffigen Maronenpudding. Die Kochschule führt Tochter Mariaemilia, beeindruckt mit selbstgemachter Pasta auch aus Kastanienmehl, mit Tiramisu, Kartoffel-Kürbis-Aufläufen und Huhn-Gerichten, dessen weißes Fleisch vorab in Milch eingelegt wird. Zum Dinner im Salon wird Wein angeboten, den Winzer etwa der Cantina La Sabbiona aus Faenza präsentieren. Auch im Weinkeller der Torriani schlummern Schätze, etwa ein Vin Santo des Jahres 1960, zu dem Biskuits und Windbeutel serviert werden. Und der Erwerb der hauseigenen Marmeladen, etwa Bitter-Orange und Orange, ist fast Pflicht!
In Palazzuolo sul Senio, einem der schönsten Dörfer Italiens, lohnt der Stopp im Doppelmuseum der Menschen der Bergwelt und der Archäologie des Mugello, ehe in Firenzuola das sehenswerte Museo della Pietra Serena im Souterrain der alten Festung La Rocca wartet. Pietra Serena, in Firenzuola abgebaut, wurde und wird als Tür-, Fenster- und Fassadendekoration verwendet. Die örtliche Pfarrkirche San Giovanni Battista am Hauptplatz, bauten Architekturstar Carlo Scarpa und Edoardo Detti 1959 bis 1966. Kampanile und Außenhaut der Kirche aus Zement verschreckten damals, heute sind die Bürger stolz auf diesen Schatz. Wer nach Kulinarischem Ausschau hält, wird in der Gelateria Le Delizie von Alessio Calamini an der Piazza Agnolo 9 fündig.
Informationen:
Region Toskana: www.visittuscany.com/de
Mugello: www.mugellotoscana.it/en
Übernachtung, Kochschule, Essen, Wein:
Palazzo Torriani, Marradi: www.palazzotorriani.it/en
Soc. Agricola/Cantina La Sabbiona, Faenza: www.lasabbiona.it
Teatro degli Animosi, Marradi: www.comune.marradi.fi.it/teatro-di-marradi
Museo Dino Campana, Marradi: www.dinocampana.it
Museo Genti di Montagna, Pallazuolo sul Senio: www.museogentidimontagna.it
Museo della Pietra Serena, Firenzuola: www.comune.firenzuola.fi.it/museo-della-pietra-serena
Fotos: Jürgen Sorges, pixabay