Die US-Amerikaner haben in der Toskana alles aufgekauft, was nicht bei „Drei“ auf dem Olivenbaum war? Und die Preise waren bereits vor der Pandemie jenseits von Gut und Böse? – Stimmt zu 98 Prozent. Aber es ist eben gar nicht so schlimm, wenn man weiß, wo man die restlichen zwei Prozent findet. Das Bed & Breakfast Follonico ist so ein Ort.
Schon bei der Anfahrt auf engen Sträßchen, vorbei an Zypressen, Olivenhainen, Weinbergen und Schafherden, gerät man ins Schwärmen. Im Westen thront Montefollonico auf einem Hügel, 250 Meter höher als der Hauptort Torrita di Siena. Im Süden zeichnet sich die stolze Silhouette von Montepulciano im milden Abendlicht ab.
Bei der Einfahrt zu dem Gehöft aus dem 17. Jahrhundert in Alleinlage begrüßt uns Amos, der Maremmen-Abruzzen-Schäferhund, mit lautem Bellen. Überhaupt ist da viel Getier: Pferde, Esel, Schafe, Hühner und Enten, zwei weitere Hunde, eine Katze. Eben: eine „working farm“, kein Freilichtmuseum für Touristen. Statt eines Hotelportiers kommt Fabio Firli um die Ecke gebogen, natürlich in Arbeitshose und heraushängendem Hemd. Der aus dem lauten und dreckigen Rom-Trabanten Tivoli stammende Italiener und seine in den Niederlanden geborene Partnerin Suzanne Simons haben sich hier vor 15 Jahren ihren toskanischen Traum erfüllt.
Und sie lassen Besucher daran teilhaben. Sechs Zimmer, vier davon im Haupthaus, zwei in einem Nebengebäude, vermietet das Duo. Fabio dirigiert uns zum Zimmer „Montepulciano“, das nicht zufällig so heißt, denn der Ausblick auf die Stadt am Horizont ist ein Traum. Das Nachbarzimmer namens „Montefollonico“ verfügt sogar über ein privates Jacuzzi. Okay, das überlassen wir dem Honeymoon-Paar. Und erfrischen können wir uns auch im Outdoor-Pool, der etwas oberhalb im Garten erst vor kurzem von Fabio angelegt wurde.
Keines der sechs Zimmer besitzt einen Fernseher. Das Programm, die Inszenierung, sind die Räume selbst. „Semplice“ – schlicht und einfach soll es sein: schwere Fensterläden, kühle Terrakotta-Fliesen, Rost auf den Türangeln, abgeblätterte Lackschichten an den Holztüren, keine Schränke, nur wenige Haken für die Kleidung, Laken aus reinem Leinen, mit Naturfarben getünchte oder weiß gekalkte Wände, im Bad Philippe Starck. Mal steht eine alte mechanische Schreibmaschine auf dem Tisch als dekoratives Statement, mal sind es Vintage-Möbel im Boho Chic.
In der Suite „Verde Intenso“ hängt ein Brautkleid an der schmiedeeisernen Garderobe, darunter stehen die passenden Satin-Schuhe. Perfekt arrangiert ist das. Und doch wirkt es – man zögert, dieses Wort zu benutzen: authentisch. Auch deshalb, weil die Firlis samt ihrer drei Kinder hier selbst wohnen, leben, arbeiten. Und obwohl manches ganz bewusst inszeniert wurde, wie das Sammelsurium an bunten Emaille-Töpfen an der Hausfassade und die Parade von Gummistiefeln beim Eingang.
Zu tun gibt es für das Power-Paar immer etwas: Jeden Tag wird frisch gebacken, ausschließlich mit lokalen Zutaten. Beim Frühstück auf den Tisch (im Sommer im Freien) kommen fast nur Produkte, die die Firlis oder ihre Nachbarn selbst herstellen: Feigenmarmelade, Butter und Joghurt, verschiedene Käsesorten aus Ziegen- und Kuhmilch, Obst von den Bäumen im großen Garten, Eier von den eigenen Hühnern. Auch deftige Speisen sind dabei wie frische Erbsen mit Minze und Ricotta, oder ein Salat aus Artischocken. „Farm to Table“ eben, lange bevor es diese Wortschöpfung überhaupt gab. Dreimal pro Woche bittet Fabio sogar zum Abendessen, obwohl es zusätzliche Arbeit bedeutet: Dann tischt er selbstgemachte Gnocchi mit Rucola, frische Salate oder eine Pastete mit Ziegenkäse und dem Honig seiner Bienen auf.
Auch das Olivenöl lässt er von den eigenen Bäumen pressen. Tatsächlich kommen einige der besten Öle Italiens aus diesem Teil der Toskana zwischen Chiana- und Orciatal. Dazu entkorkt Fabio einen einfachen, aber ehrlichen Rosso di Montepulciano.
Nach dem Dinner sitzt man auf der Veranda mit einem Amaro oder einem Grappa in der Hand und hört den Fröschen im Teich des Anwesens beim Quaken zu. Es duftet nach Jasmin und mediterranen Kräutern wie Thymian und Rosmarin, während man Pläne für den nächsten Tag schmiedet. Ein Ausflug nach Siena? Oder doch lieber zum Esel-Palio ins nahe Sinalunga? Auch ein Besuch des ganz in der Nähe gelegenen Weinguts von Andrea Cortonesi bietet sich an. Nicht nur, weil er ein Freund von Fabio ist, sondern weil er saubere, ehrliche Weine macht, ganz ohne Marketing-Getöse. Auf jeden Fall sollte man sich schon mal Gedanken darüber machen, wo man abends essen möchte an jenen Tagen, an denen Fabio nicht kocht.
Natürlich hat der Hausherr einige Tipps parat. Und so landen wir am folgenden Abend im Ristorante von Walter Redaelli in Bettolle. Walter begann seine Karriere in Mailand im berühmten Restaurant von Gualtiero Marchesi. In der Locanda dell’ Amorosa (Provinz Siena) erkochte er sogar einen Michelin-Stern, ehe er sich nach weiteren Wanderjahren in Italien und Frankreich selbstständig machte.
Heute kocht er toskanisch bodenständig: Spaghettoni mit Speck und Spargel, eine Roulade vom Kaninchen mit Kräuterfüllung, lokales Schwein, das es mit iberischen Schwarzfüßen allemal aufnehmen kann. Walters Maître hilft bei der Weinauswahl. Natürlich sollte man einen Vino Nobile di Montepulciano probieren, wenn man doch schon einmal hier ist. Und auch einen Brunello di Montalcino. Ein gutes Preis-Leistungsverhältnis bietet zum Beispiel der Brunello Col d’Orcia 2017 der Familie Franceschi, einem der ältesten Weingüter im Montalcino.
Anderntags melden wir uns bei Roberto Crocenzi im hübschen, aber nicht zu touristischen Montisi zur Cena an. Fabio hatte uns mit einem Augenzwinkern vorgewarnt: Der 64-Jährige sei ein „Food Extremist“, verwende als strenger und überzeugter Advokat der Slow-Food-Bewegung nur Lebensmittel, von denen er selbst zu hundert Prozent überzeugt ist. Seine Website listet detailliert auf, was er durchgehen lässt und was für ihn lediglich kulinarische Folklore ist. Als wir ihn spätnachmittags treffen (er kocht nur auf Voranmeldung!), jammert er erst mal ein bisschen über seine Herzprobleme, immerhin in bestem Englisch, denn er ist mit einer Amerikanerin verheiratet. Dann erzählt er, wie es ihn vor 18 Jahren aus den Abruzzen nach Montisi verschlug.
Und er stellt uns seine Katze vor, deren Stuhl für sie und sonst niemand reserviert ist. Als Roberto im Haus verschwindet, sind wir nicht ganz sicher, ob er noch einmal auftaucht, oder sich zu einem Nickerchen hingelegt hat. Dann aber serviert er einen regelrechten Super-Food-Salat mit Kichererbsen, Bohnen, Leinsamen, Kapern, Sonnenblumenkernen und dem besten Olivenöl weit und breit, alles von Slow-Food-Presidi-Erzeugern. Als Primo tischt er selbstgemachte Pizzicotti mit wunderbar milden Zwiebeln und bestem Pecorino auf, gefolgt von grobkörnigen Salsicce mit schrumpeligen Kartoffeln und Rosmarin. Alles schmeckt im Wortsinn „einfach gut“ und wir vergessen tatsächlich, Roberto nach Wein zu fragen. Macht nichts. Zum Dessert gibt es Ricotta con Caffé, dazu den komplett zuckerfreien Amaro eines lokalen Erzeugers und Freundes von Roberto.
Als wir zurück ins Agriturismo Follonico fahren, tun wir das mit dem guten Gefühl: Es gibt sie noch, die echte Toskana. Man muss nur ein bisschen länger suchen als vor zehn oder 20 Jahren.
Informationen:
Fotos: Marco Grillo / www.marcogrillo.com