Travel

Zu Besuch im Reiseparadies Stettiner Haff (Teil 1)

Mit 52 km West-Ost-Ausdehnung und 22 km Nord-Süd-Ausdehnung ist es ein wahrer Naturgigant – und dies bei durchschnittlich nur 3,8 m Wassertiefe. Nur die schiffbaren Wege erreichen Wassertiefen bis zu 10 m. Im Norden von der Insel Usedom und Polens größter Insel Wolin (Deutsch auch Wollin) begrenzt, schließt sich dem Kleinen Haff (277 km²) im Westen und dem Großen Haff (410 km²) östlich der dritte Mündungsarm der Oder, die 35 km lange Dziwna (deutsch Dievenow) an.

An einem Ufer begrenzt von der Insel Wolin mit der Stadt Wolin, bildet Pommerns Küste den zweiten Ufersaum. Hier erstreckt sich, nun schon fast 70 km nordöstlich von Szczecin (Stettin), mit dem Camminer Bodden, polnisch Zalew Kamieński, ein einzigartiges Seglerparadies. Heimstatt der Seglerfans ist dabei die neue, gut ausgebaute Marina eines nur 8800 Einwohner zählenden schmucken Küstenortes: Kamień Pomorski, einst Cammin in Pommern oder auch nur kurz Kammin genannt. Erst einmal beeindruckt die schmucke Uferpromenade samt schmuckem Hafenrestaurant, der weit in den Bodden ragende, viel besuchte Landungssteg, dazu viele ankernde Segel- und sogar Hausboote, die gemächlich auf dem Bodden tuckern. Kite- und Windsurfer tummeln sich hier mit Paddlern, sommertags legen Ausflugsboote vom Landungssteg ab.

Sogar ein echtes „Piratenschiff“ namens „Victoria“ ist dabei. Die Kogge mit Ausguck auf dem Mast wird viel gebucht. Nur 8000 m sind es von hier bis zur Mündung in die Ostsee und damit auch zu den bekannteren Badeorten wie Dziwnów (einst Klein Berg) auf der Insel Wolin. Viel Wald ringsum, die große, vorgelagerte Insel Chrzaszczewska (deutsch einst Gristow) und das 2011 eingerichtete große Vogelschutzgebiet stehen für die herrliche Natur ringsum. Im Reservat haben Kormorane und Graureiher ihr Habitat, in den Feuchtwiesen leben Enten und viele Wasservögel. Sogar der Seeadler ist heimisch. Kein Wunder daher, dass es viele hierher ins nur auf den ersten Blick verschlafene Boddendorf zieht. Radler erkunden die herrliche Landschaft und viele zieht es sogar der Gesundheit wegen hierher.

Piratenschiff Victoria. Foto: Ellen Spielmann
Piratenschiff Victoria. Foto: Ellen Spielmann

Denn Kamień Pomorski ist schon seit Ende des 19. Jahrhunderts, exakt seit 1882, dank des milden Klimas, der stets frischen Brise, jod-, brom- und chlorhaltiger Solequellen und der Heil- und Torfmoore staatlich anerkannter Kurort. Hier trifft man sich zu Reha-Aufenthalten, nutzt die Salzgrotte im Kurhaus „Mieszko“ und entspannt und erholt sich von Atembeschwerden oder rheumatischen Zipperlein. Keine Frage, Cammin in Pommern war einst viel bedeutsamer, als es heute den Anschein hat. Dies zeigt schon das Holzwrack, das oberhalb der Marina vor den auch dank 2007 bis 2013 geflossener EU-Gelder perfekt restaurierten Abschnitten der mittelalterlichen Stadtmauer aufgestellt wurde und für die lange Schifffahrtstradition steht. Es wurde erst vor kurzer Zeit aus dem Camminer Bodden gehoben und perfekt restauriert.

Oberhalb erhebt sich dann hinter der Freifläche für Open air-Musikveranstaltungen am Marktplatz das nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaute und herausragend restaurierte spätgotische Rathaus. Der Ostgiebel mit Eingang ist aus dem 15. Jh., der Westgiebel entstand Ende des 16. Jh.s. Es ist überhaupt ein Wunder, dass es wie auch das Fachwerkhaus aus dem 17. Jh. am Markt bis heute steht. Denn gegen Ende des zweiten Weltkriegs tobten hier fürchterliche Kämpfe. Über 60 Prozent der Bausubstanz fielen in Schutt und Asche. Das größte Wunder ist dann aber die Kathedrale St. Johannes von Kamień Pomorski, deren Baubeginn auf 1175 datiert. Auch sie überstand den Krieg nahezu unbeschadet. Man erreicht sie vorbei am Denkmal für Marschall Pilsudski und dem schmucken Denkmal für das jährliche Orgelfestival, für das Kamień Pomorski heute berühmt ist.

Und der Camminer Dom steht natürlich wie kein andres Bauwerk für die lange neuere Geschichte des Ortes, der ursprüngliche aus einem befestigten slawischen Burgwall der Wenden hervorging. Dann aber kam Polenherzog Boleslaw II. Schiefmund, wollte Pommern christianisieren und holte zu diesem Zweck Otto von Bamberg herbei, der hernach zum Apostel der Pommern aufstieg. 1124 war Otto hier, 1128 nochmals. So wurde Cammin zum Hort der Christianisierung und stieg bereits 1175 auch offiziell zum Sitz des Bistums Cammin auf. Schon 1140 war dies inoffiziell geschehen, als die Dänen die Stadt Wolin überfallen hatten und der damalige Bischofssitz hierher verlegt wurde. 1325 war der Bau nach einigen Wirren und Überfällen allzu stolzer Raubritter endlich fertig.

Das spätgotische Rathaus. Foto: Ellen Spielmann
Das spätgotische Rathaus. Foto: Ellen Spielmann

Heute ist das kleine Kamień Pomorski ein bedeutender Teil des katholischen Erzbistums Stettin-Cammin, der Camminer Dom ein der zwei Kathedralkirchen. Und das mit Recht. Denn allein seine Ausmaße bei 63 x 81 m Grundfläche machen das romanisch-gotische Bauwerk zur größten Kirche Pommerns. So überrascht auch nicht, dass ich viele in dieser bedeutenden Kirche trauen lassen. Meist versammelt man sich vor dem 1855 erbauten neogotischen Hauptturm, der erneut 1936 umgebaut wurde. Am historischsten ist der Dom am südlichen Portal, das um 1250 entstand. Zudem war der Sakralbau von 1535 bis 1945 als Dom St. Mariae und St. Johannes Baptist Sitz der evangelischen Gemeinde und ein Hort der Reformation. Die Gattin des ersten evangelischen Pastors Johann Colling 81535 – 1541) war Martin Luthers Schwester Christine. Ihm folgten 21 weitere Pastoren. Das Kircheninnere birgt wahre Schätze, dabei nicht nur die barocke Kanzel, die mittelalterlichen Blumenmotive im Gewölbe oder die Wandmalereien im Chor, die aus dem 13. Jh. stammen. Im vom Querschiff durch ein barockes Gitter (Lettner) von 1684 getrennten Chor befindet sich ein Altar mit einem Bildnis von Christus und Pilatus, das Rembrandt van Rijn zugeschrieben wird. Im Längsschiff sind zudem links vom Hauptaltar zwei Gemälde, wohl von Lucas Cranach dem Älteren, zu bewundern: „Der Weg nach Golgatha“ und „Christi Kreuzigung“.

Der größte Schatz ist aber perdu: der sogenannte Cordulaschrein, eine Wikingerarbeit von ca. 1000 n. Chr. aus Südschweden mit 22 Elfenbeinplatten samt einzigartiger Tiermotive, verschwand 1945 spurlos. Im nahen Greifswald, heute Partnerstadt von Stettin/Szczecin, ist aber im dortigen Pommerschen Landesmuseum eine Kopie zu sehen. Wertvollstes Interieur ist daher heute die gewaltige Orgel, die 1670 bis 1672 Michael Berigel (auch: Birgel) schuf, der sonst vornehmlich in Lübeck, Lüneburg und Hamburg aktiv war. Die älteste Orgel von 1382 1580 ersetzt worden, doch 1630 bei einem Feuer arg in Mitleidenschaft gezogen worden.

So musste dieses neue Schmuckstück her, das dann 2004 von der neuen Orgel von Wladyslaw Cepka ersetz wurde. Geblieben sind aber ihre herrlichen Barockprospekte. Gut möglich, dass hier auch einmal der Vater des heute wohl bekanntesten Camminers hier aufspielte. Denn der war Kantor und Lehrer. 1929 wurde sein Sohn Klausjürgen Wussow in Kammin geboren. Ab 1946 besuchte Wussow dann das Richard-Wossidlo-Gymnasium in Waren an der Müritz und drückte dort die Schulbank mit einem gewissen Heiner Müller, dem späteren berühmten Autoren und Theatermacher. Wussow, der 2007 verstarb, wurde natürlich vor allem mit TV-Serien wie „Der Kurier der Kaiserin“ (Zarin) und vor allem als Dr. Brinkmann in der „Schwarzwaldklinik“ bekannt. Noch einmal zeigt er sein Faible für die Medizin in der Serie „Klinik unter Palmen“. Ein weiterer berühmter Camminer war übrigens auch der Schriftsteller Uwe Johnson, der hier 1934 das Licht der Welt erblickte.

Gedenktafel für Ewald Georg von Kleist. Foto: Ellen Spielmann
Gedenktafel für Ewald Georg von Kleist. Foto: Ellen Spielmann

Direkt an der Kathedrale stehen zudem der Renaissancebau des Bischofspalastes, die alte Domschule und das Denkmal für einen Aufklärer, den Naturwissenschaftler Ewald Georg von Kleist (1700 – 1748). Am 11.10.1745 erfand von Kleist in Kammin die elektrische Verstärkungsflasche. Dieser erste elektrische Kondensator wurde als Kleistsche Flasche bekannt. Berühmter wurde allerdings ihr Pendant, die Leidener Flasche, die der Leidener Uni-Professor Petrus von Mussenbroek wenig später unabhängig von von Kleist erfand. Nach dem Besuch des Bautors (einst Burgtor) und des Stadtmuseums locken dann die guten Restaurants am Hafen, ehe es weiter zur Stadt Wolin (Wollin) auf der gleichnamigen größten Insel Polens geht.


Informationen:

Polnisches Fremdenverkehrsamt, www.polen.travel 

Museen/Attraktionen:

Museum für die Geschichte der Region Kamień Pomorski, www.mhzk.eu

Segeln/Wassersport:

Marina Kamień Pomorski, www.marinakamienpomorski.pl/de/home/

Fotos: Ellen Spielmann