Gianluca Bisol erinnert sich noch gut an den Tag vor mehr als 20 Jahren, der sein Leben verändern sollte. Es war im Jahr 2001 und der Nachfahre einer alten Winzerfamilie aus dem Veneto hatte gerade die idyllische Basilika der kleinen Laguneninsel Torcello besucht, als er im Garten nebenan etwas Unerwartetes bemerkte. Hinter einem schmiedeeisernen Zaun lag ein kleiner, beinahe verborgener Weingarten. Es war der Garten von Nicoletta Piccoli, deren Vater hier einige Rebsorten gepflanzt hatte. Sie hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, die alten Weinstöcke zu entfernen, die jede Menge Arbeit bereiteten. Was Gianluca aber in ihrem Garten entdeckt hatte, waren drei Stöcke einer besonderen Rebsorte: der lange für verloren gehaltenen Dorona di Venezia. Dieser Tag und diese drei Rebstöcke stehen am Beginn der Geschichte des Weinguts Venissa auf der Insel Mazzorbo, an dem die Jahrhunderte alte venezianische Weinbautradition ihre Renaissance erfuhr.
Weinanbau hat in der Lagune eine lange Tradition
Nach seiner Entdeckung begab sich Gianluca auf Recherche. In den Archiven fanden sich Belege dafür, dass auf den Laguneninseln bereits im frühen Mittelalter Wein und Obst angebaut wurde. Sogar mitten auf dem Markusplatz wurde um das Jahr 1100 n. Chr. Wein angebaut. Und nicht umsonst heißen die meisten Plätze Venedigs noch heute Campo, also Feld, erklärt Matteo Turato von Venissa, während er über das weniger als zwei Hektar kleine Weingut führt. Obst-, Gemüse- und Weinanbau haben eine lange Tradition in der Lagune. Als die Weingärten Venedigs längst mit Steinplatten gepflastert und mit Palazzi überbaut waren, wurde auf den umliegenden Inseln wie Murano, Burano und Torcello weiter intensiv Obst- und Weinanbau betrieben. Und das in einem eigentlich unwirtlichen, von wiederkehrendem Hochwasser und hohem Salzgehalt geprägten Milieu. Die Jahrhundertflut von 1966 bereitete dem Anbau von Obstbäumen und Weinstöcken ein jähes Ende für viele Jahre und vernichtete auch die letzten bekannten Dorona-Kulturen. Der Salzgehalt im Boden war in Folge der Flut zu hoch und griff die Wurzeln der Pflanzen an.
Neubeginn mit 88 Rebstöcken
Also startete Gianluca seine Mission: Die Wiedereinführung der autochthonen venezianischen Rebsorte Dorona. Auf Mazzorbo, der über eine kleine Fußgängerbrücke mit Burano verbundenen Nachbarsinsel, fand er den idealen Ort. Knapp zwei Hektar brachliegende, ummauerte Anbaufläche. Vor Jahrhunderten hatte hier bereits die Monasteria San’Eufemia Wein produziert. Nachdem das Kloster unter Napoleon aufgelöst worden war, war das Gut irgendwann von Privathänden in den Besitz der venezianischen Stadtverwaltung übergangen. „Es war, als ob das Land nur auf die richtige Idee wartete“, sagt Gianluca.
Bei seiner Suche fand er auf den umliegenden Inseln noch 85 weitere Dorona-Rebstöcke. Mit insgesamt 88 Rebstöcken gründete er das Projekt Venissa und im Jahr 2010 war es endlich soweit: Gianluca konnte den ersten Jahrgang ernten. „Es war einer der erfüllendsten Momente meines Lebens“, erinnert er sich.
Wer heute mit dem Vaporetto der Linie 12 aus Venedig in Mazzorbo ankommt, vor dem liegen die alten Mauern des Weinguts mit dem schief aufragenden Campanile des ehemaligen Klosters. Nur ein paar Schritte sind es von der Anlagestelle bis zum Hauptgebäude. Das Terroir stellt einzigartige Anforderungen an die Weinstöcke: Das salzige Grundwasser reicht bis nahe an die Erdoberfläche. „Die Wurzeln müssen dem Salz ausweichen“, erklärt Venissas Weinbotschafter Matteo Turato. „Deshalb erbringt die Rebe einen extrem geringen Ertrag“. Nur rund 3500 Halbliterflaschen mit dem charakteristischen Goldblatt-Etikett werden von jedem Jahrgang hergestellt. Dorona, darin steckt das italienische d’oro, und tatsächlich glänzen die Dorona-Trauben goldgelb in der Sonne. Daher besann man sich auch bei der Gestaltung der Flaschen auf alte Handwerkstraditionen der für ihre Glasbläser bekannten Insel Murano. Jede Flasche wird dort in Handarbeit mit einer Blattgoldauflage verziert und beschriftet.
Eine Traube, die dem widrigen Terroir trotzt
Wer in die Hocke geht und den Blick über die im Schnitt nur einen Meter über dem Meeresspiegel gelegene Anbaufläche schweifen lässt, bemerkt einen leichten Höhenunterschied von 30 bis 50 cm und Entwässerungsgräben. Bei dieser extremen Situation haben bereits kleine Standortunterschiede einen großen Effekt: Die Trauben mit den etwas günstigeren Wachstumsbedingungen werden zu dem leichteren Venusa gekeltert. Die Trauben, die einem höheren Salzgehalt ausgesetzt sind und daher noch geringeren Ertrag bringen, ergeben den Wein, für den das Weingut bekannt ist, den Venissa Bianco. Die Weinstöcke müssen auch dem Hochwasser trotzen, das regelmäßig für kurze Zeit auftritt. Die Ablaufgräben sorgen dafür, dass das Wasser rasch wieder zurückströmen kann, denn je länger es steht, umso schädlicher für die Pflanzen.
Wie alt die Dorona-Traube wirklich ist, lässt sich nicht genau sagen. Sicher ist sie aber bereits für das 15. Jahrhundert für Venedig bezeugt. Auch beim Herstellungsverfahren orientiert man sich an den alten Traditionen der Lagune. Ein Geheimnis liegt in der bereits im mittelalterlichen Venedig üblichen Mazeration, die beim Venissa Bianco lange 30 Tage beträgt. Danach reift der Wein für mindestens vier Jahre in Zementfässern und anschließend noch ein Jahr in der Flasche. Was so entsteht, ist ein facettenreicher, extrem langlebiger Weißwein, der auch Aspekte eines Rotweins in sich vereint. Vom Rotwein hat er die Robustheit, vom Weißwein die Eleganz und Frische. Das außergewöhnliche Terroir scheint auch in der Mineralität mit einer salzigen, leicht säuerlichen Note durch.
Tradition, Nachhaltigkeit und Biodiversität als Leitlinien
Tradition, Nachhaltigkeit und Biodiversität sind die Leitlinien von Venissa. Auch die Einwohner von Mazzorbo und der größeren Nachbarsinsel Burano haben auf dem Gelände eigene Flächen, auf denen sie Gemüse anbauen. „Wir sehen uns hier als eine große Gemeinschaft“, sagt Matteo. Rund um den Weingarten hat die Familie Bisol ihre umfassende Vision verwirklicht, zu der neben dem Weinanbau auch eine Osteria, ein mehrfach ausgezeichnetes Sterne-Restaurant und Übernachtungsmöglichkeiten auf dem Landgut und in der nahegelegenen Gemeinde von Burano gehören.
Die Osteria Contemporanea im rustikalen alten Hauptgebäude bietet den Besuchern eine authentische Atmosphäre. Hier speist man, wo in den Zeiten des mittelalterlichen Klosters der Wein gekeltert wurde. Lokale Gemüse wie die Artischocken der Lagune und Fisch aus der Adria spielen auf der reichen Speisekarte eine Hauptrolle. Hinter der Osteria liegt im Garten das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete Restaurant. Die Küchenchefs Chiara Pavan und Francesco Brutto beschreiben ihre Küche selbst als „Cucina Ambientale“ und orientieren sich stark an den in der Lagune verfügbaren Ressourcen. Die meisten verwendeten Kräuter stammen aus dem eigenen Anbau zwischen den Weinreben und auch das Gemüse wird überwiegend lokal und regional angebaut. Ihr Anspruch: die Harmonie zwischen den Gerichten und der besonderen Umgebung.
Condé Nast Johansens „Bestes Hotel für Nachhaltigkeit 2020“
Wer länger an diesem schönen Platz verweilen möchte, dem bietet Venissa auch mehrere geräumige Zimmer im Landhaus, teils mit Blick auf die Lagune. Und auf der Nachbarinsel Burano können die Gäste sogar in einem der extra hergerichteten kleinen, bunten Stadthäuser inmitten der Inselgemeinde wohnen. Von Condé Nast Johansens wurde Venissa als „Bestes Hotel für Nachhaltigkeit 2020“ in Kontinentaleuropa & Mittelmeerraum ausgezeichnet.
Ein besonderes Erlebnis bietet Venissa auch den Tagesgästen von Venedig und der Küste: Sie können sich auf Anfrage mit dem Bootstaxi des Weinguts von Venedig oder dem auf dem Festland gelegenen Altino abholen lassen zum 7-Gänge-Menü auf Mazzorbo, von wo es spät am Abend unter dem nächtlichen Sternenhimmel über die dunklen Wasser der Lagune zurückgeht.
Information:
Fotos: Nevio Doz, Paolo Spigariol, Mattia Mionetto, Francesco Galifi, Venissa / Text: Jochen Hägele