„Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, doch leben muss man es vorwärts.“ Mit Blick auf das Leben von Torsten Michel ist die Weisheit von Søren Kierkegaard aus dem Jahr 1850 aktueller denn je. Schon als Kind stand für den gebürtigen Dresdner fest: Pilot möchte ich werden, am besten in einem Kampfflugzeug. Doch kurz vor der Erfüllung machte eine Rot-Grün-Schwäche seinen Kindheitstraum zunichte – und Michel brauchte eine Alternative. „Das Ausbildungsjahr für andere Berufe lief bereits“, blickt der 47-Jährige heute zurück. Doch im Westin Bellevue in Dresden hatte er Glück, sein erster Küchenchef gab ihm noch eine Lehrstelle. So ist er – gleichsam aus der Not heraus – Koch geworden.
Monolith in der deutschen Restaurantlandschaft
Der Rest ist Geschichte. Das Schicksal meinte es nicht nur gut mit ihm, sondern auch mit unzähligen Feinschmeckern, die in den Genuss seiner kulinarischen Kreationen kommen. In diesem Jahr feierte Torsten Michel sein 20-jähriges Jubiläum in der Schwarzwaldstube im Hotel Traube Tonbach. 2017 trat er die Nachfolge von Harald Wohlfahrt als Küchenchef an –und führte dessen Vermächtnis nahtlos fort: Die Schwarzwaldstube ist längst das traditionsreichste Drei-Sterne-Restaurant der Republik und wird in sämtlichen Restaurantführern mit Höchstbewertungen geführt. Für die Tester des Gault&Milliau ist sie „ein Monolith in der deutschen Restaurantlandschaft“. Seit 1992 leuchten drei Michelin-Sterne über dem Gourmettempel im Luxushotel Traube Tonbach, das Patron Heiner Finkbeiner in achter Generation führt.
Eloquenz und Humor
Mit 99,50 von 100 möglichen Punkten führt die Schwarzwaldstube aktuell erstmals „La Liste“ an. Das weltweite Ranking listet 1.000 Restaurants und beruht auf der Auswertung durch einen Algorithmus von 1.070 internationale Quellen, darunter internationale Medien, Reiseführer und Online-Bewertungen.
Außerhalb der Küche perfektionieren Chef-Sommelier Stéphane Gass und Maître Nina Mihilli das Zusammenspiel von Küche und Gast auf höchstem Niveau. Gass begann Ende 1990 als 19-Jähriger in der Schwarzwaldstube und holte im April den Michelin Sommelier Award 2024 nach Baiersbronn. Der ewig jung gebliebene Elsässer strahlt eine große Souveränität aus und verfügt neben Eloquenz und Humor auch über ein enzyklopädisches Wissen. Seine Weinbegleitungen harmonieren passgenau mit den kulinarischen Kreationen von Torsten Michel.
Sepiacracker mit Pulpo und Sepia-Gelée
Nina Mihilli wurde im aktuellen Gault&Millau zur „Gastgeberin des Jahres“ gekürt. Wohlverdient, möchte man zustimmen. Ihre lockere, hoch aufmerksame und herzliche Art macht es immer wieder zur Freude, wenn sie an den Tisch kommt. Phänomenal ihr Gedächtnis: Auch wenn sechs Feinschmecker jeweils unterschiedliche fünf- bis siebengängige Menüs plus Sonderwünsche bestellen – Nina Mihilli speichert alles mühelos ab. „Mit feinstem Gespür für ein ideales Verhältnis von Nähe und Distanz ausgestattet sorgt sie für eine heiter-entspannte Atmosphäre am Tisch“, lobt sie der Gault&Millau, nicht ohne ihr großartiges Team zu vergessen.
Zum Apéro reicht sie vier kleine, hocharomatische Kunstwerke, die schon beim ersten Anblick in ihren Bann ziehen: Ein Sepiacracker mit Pulpo, Sepia-Gelée, Safranmayonnaise und jungem Basilikum, Blumenkohl als Schaum und rohmariniert mit Korianderkresse und Saiblingskaviar, ein Paprika-Walnuss-Dip, mit Chili, Mais und Mango sowie einem Senfchip mit klassisch mariniertem Rindertatar, Meerrettichschaum und frischem Meerrettich.
Balfegó-Thunfisch
Eine fein abgestimmte Komposition ist die mit Lorbeer topfrisch auf den Punkt gebratene Rotbarbe ist mit einer mit Sternanis, Dill und Zitrone gebeizten Gelbschwanzmakrele gefüllt. Dazu als aromatische und texturelle Erweiterung Fenchel glasiert und als Coulis, Gartengurke und eine herrlich ausbalancierte Küchenkräutermarinade.
Torsten Michels Thunfisch-Deklination verbindet herausragende Produktqualität mit exzellenter Kochkunst. Der Balfegó-Thunfisch zählt zu den besten seiner Art – und der Bauch gilt als dessen hochwertigster Teil. Neben den fetteren Bauch legt Torsten Michel ein Stück vom Rücken des Meerestiers, das sich drei Tage zuvor noch seines Unterwasserlebens freute. Beides beizt er mit Thunfischschmalz, was eine angenehme Fülle verleiht. Abgerundet wird die intensiv-kraftvolle Aromenbild durch knusprig-krosse Croûtons vom Thunfischspeck und Artischocken mit milder Anchovis-Kapernwürze. Zwei immens portionierte Nocken von Imperial-Kaviar setzen mit ihrer dezenten Salzigkeit einen schönen Kontrapunkt.
Kabayaki-Lack
In puncto Produktqualität knapp an der Grenze zum Nirwana stehen die Tournedos vom japanischen Rinderfilet. Das Fleisch aus der warmen, im Süden Japans gelegenen Präfektur Miyazaki zählt als beste zertifizierte Marke aller japanischen Wagyu-Varianten zur absoluten Weltspitze. Es ist eines der teuersten Produkte, das Torsten Michel je auf die Teller brachte – der Primus inter Pares sozusagen. Unübertrefflich die Zartheit und weiche Textur, das Fleisch schmilzt förmlich auf der Zunge. Michel versieht es mit einem Kabayaki-Lack, einer Reduktion aus Sojasauce, Räucheraal und Honig. Krause Glucke, Shiitake-Kompott und eine Hambagu genannte japanische Frikadelle vom Wagyu mit Sesam verleihen diesem Gericht eine außergewöhnliche Verbindung von Kraft und Finesse, die durch einen mit altem Reisessig aromatisierten Schmorsaft vervollkommnet wird.
Für den krönenden Abschluss sorgt Patissier Piet Gliesche. In seiner Kombination aus Herzkirschen in Sherrysud auf Schokoladenbiskuit und Zimtsablé, Holunderweineis und Sauerkirsch-Ganache verschmelzen Süße und Säure aufs Innigste. Ein Beispiel für seine fein ziselierte Kunst ist die Pina-Colada-Praline, ein kleines Kunstwerk aus weißer Schokolade mit Kokosraspeln, Schokoladenganache mit Ananas und Kokos, Baba in exotischem Sud, Passionsfruchtgel und Kokoshippe. Am liebsten würde man die Praline als Souvenir mit nach Hause nehmen und in Harz verewigen – wenn sie nicht so verführerisch wäre.
„Ich wollte immer nur eines…“
Unwiderstehlich auch die Petits Fours, darunter edelste Pralinen mit Gin Tonic, Erdbeere-Sesam-Waldmeister, Himbeer-Yuzu sowie Ananas mit rotem Pfeffer. Auch eines der in Kupferformen gebackenen Cannelés mit seiner herrlich knusprigen Kruste ist eine Sünde wert, auch wenn der Magen längst mit dem kulinarisch Besten zum Bersten gefüllt ist.
„Ich wollte nie in der Weltgeschichte herumreisen“, blickt Küchenkünstler Torsten Michel heute zurück, „ich wollte immer nur eines: hervorragend kochen lernen.“ Der Mann, der einst Kampfpilot werden wollte, hat sein Ziel erreicht. Besser lässt sich sein Wirken nicht auf den Punkt bringen.
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Fotos: Rene Riis, Julian Beekmann