Und – kleine Überraschung – auch nicht so viel mit dem Tag der polnischen Unabhängigkeit, der ebenfalls jährlich am 11.11. gefeiert wird. Denn wir sind zwar in Polen, doch eben auch in der boomenden Wirtschaftsmetropole des Landes, in Poznań. Und hier, 300 km östlich von Berlin, ticken die Uhren am 11. November zwar nicht anders, doch noch intensiver. Klar: Polens Unabhängigkeit wird hier natürlich ebenso wie im ganzen Land gefeiert. Doch regelrecht zelebriert wird dieser Tag gleichzeitig mit noch dazu äußerst fröhlichem Habitus vor allem für einen katholischen Heiligen: Sankt Martin, polnisch Święty Marcin.
Denn Poznań, deutsch auch Posen genannt, ist auf vielfältige Weise mit diesem Heiligen verbunden, der als römischer Soldat einst legendär zu seinem Schwert griff und seinen Mantel mit einem in Lumpen gehüllten Bettler teilte. Daran erinnern auch in deutschen Landen zahlreiche Ereignisse, etwa die Martinszüge, das Martinssingen oder kulinarisch auch das Martinsgansessen. Gefiert wird stets am 11.11.! Geliehen hat man sich diesen Gedenktag indes vom Bischof Martin von Tours, der am 11.11.397 n. Chr. verstoben sein soll.
In Poznań gibt es erst einmal die auch Martinskirche genannte Sankt-Martins-Kirche, die für die Entwicklung dieses Festtages und das Zustandekommen des Posener Martinshörnchen von großer Bedeutung war. Denn der dortige Pfarrer der Martinskirche, Jan Lewicki, soll die Martinslegende jährlich vor der Kirchweih des Kirchensprengels wiederholt haben. Dann ist auch noch die wichtigste Straße der Stadt, die ul. Święty Marcin (St.-Martin-Straße), nach diesem populären Volksheiligen benannt. Und am Martinstag ziehen auf ihr Tausende nach der katholischen Messe hinauf bis hin zum erst kürzlich restaurierten Kaiserschloss von Poznań. Dort übergibt dann der Stadtpräsident (Oberbürgermeister) von Poznań dem eigens herbeigeeilten heiligen Martin die Stadtschlüssel und somit symbolisch die Macht über Poznań.
Danach finden den ganzen Tag über bis in den späten Abend zig Aufführungen, Darbietungen und Vergnügungen statt, an denen längst nicht nur die Einwohner von Poznań teilnehmen. Viele Gäste reisen sogar von weither explizit zum Martinstag hierher an die Großstadt am Fluss Warta (deutsch: die Warthe), die auch Hauptstadt der Woiwodschaft Wielkopolska (Großpolen) und des Erzbistums Poznań ist. Und an diesem Tag schlägt dann ein besonderes süßes Gebäck alle Superlative: das Posener Martinshörnchen. Allein am 11.11. werden mindestens 1,1 Millionen dieser der Croissant ähnlichen Spezialität veräußert. Doch nicht genug damit: Eigentlich ist in Poznań das ganze Jahr über Sankt-Martinstag.
Und so werden übers Jahr sogar insgesamt mindestens 2,5 Mio. süße „Hörnchen“ verkauft. Das sind satte 500 Tonnen Martinshörnchen! Kein Wunder ist es daher, dass dies Aushängeschild von Poznań seit 2008 sogar auf europäischer Ebene geschützt ist, zumindest was das Herkunftszeichen betrifft. Niemand darf so einfach ein Posener Martinshörnchen herstellen. Dies Privileg ist einzig und allein ausgewählten zertifizierten Bäckereien und Konditoreien in und um Poznań vorbehalten. Und natürlich sollte man in Poznań auch nicht einfach nur von einem „Martinshörnchen“ sprechen. Denn polnisch heißt das Gebäck aller süßen Begierden „rogal świętomarciński“, also Sankt-Martins-Hörnchen.
Tatsächlich besitzt dies süße Croissant mit opulent beigegebener, exorbitant schmackhafter Weißmohnfüllung eine lange Geschichte. Ausgangspunkt war wohl die eingangs erwähnte Pfarrkirche Sankt Martin. Erstmals für das Jahr 1852 ist belegt, dass spezielle Martinshörnchen hergestellt wurden. Im Jahr 1860 wurde erstmals in Poznań für sie geworben. Dann aber kamen das Jahr 1891 und der 11.11.1891 – der eigentliche Geburtstag des Martinshörnchens. Denn an diesem Tag wurden erstmals auch Sankt-Martins-Hörnchen an Arme und Bedürftige verteilt. Seither gehört das Martinshörnchen fest zur Stadt und zum Umland.
Legendär war es ein gewisser Bäcker Walenty, der sich 1891 entschloss, Gutes zu tun wie der heilige Martin. In der Nacht vor der Kirchweih hörte er auf der Landstraße Pferdegetrappel. Er trat über die Schwelle und erblickte einen Ritter in glänzender, mittelalterlicher Rüstung auf einem Schimmel und ein Hufeisen, das im Schnee lag. Und so soll er erstmals kleine Kuchen in Hufeisenform und mit Mohnfüllung gebacken haben, um diese dann nach der Kirchweihmesse an Arme zu verteilen. Gefüllt waren die Leckereien angeblich mit einer Masse aus weißem Mohn, Backobst, Nüssen und Sahne. Tatsächlich aber war es Józef Melzer, ein Bäcker aus Poznań, der seinem Chef 1891 die Idee eingab, Martinshörnchen zu backen. Diese Hörnchen wurden dann am 11. November 1891 nach der Kirchweihmesse an die Armen verteilt. Reiche Bürger von Poznań kauften die Delikatesse, Arme erhielten sie umsonst. Ab 1901 wurde diese Tradition von der Konditoren-Vereinigung in Poznań übernommen. Nach dem Ersten Weltkrieg griff Franciszek Rączyński diese Tradition wieder auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg rettete Zygmunt Wasiński das Martinshörnchen vor dem Vergessen.
Heute bestehen die Martinshörnchen aus Plunderteig und einer mächtigen Füllung, die unbedingt Weißmohn, Vanille, zerkleinerte Datteln oder Feigen, Rosinen und Sahne beinhalten muss. Zudem muss das originale Sankt-Martins-Hörnchen mit einer Zuckerglasur bestrichen und mit gemahlenen Nüssen bestreut sein. Die dem Croissant so ähnliche Hufeisenform ist indes reine Legende! Denn die Form des Martinshörnchens reicht bis in uralte, in jedem Fall frühchristliche Traditionen zurück, als man noch heidnische Bräuche praktizierte und vor allem Hornvieh bei den Opfergaben eine wichtig Rolle spielte. „Hörnchen“ ist also im eigentlichen Sinn des Wortes ein Hinweis darauf. Kirche und christliche Tradition verwoben dann den heidnischen Brauch mit der Legende des heiligen Martin, dessen Pferd ein Hufeisen verlor.
Und so wurden aus Ochsenhörnern Pferdehufeisen und dann Martinshörnchen. Ein wenig folgt dieser Legende auch das Martinshörnchen-Museum Poznań (Rogalowe Muzeum Poznańia), das im ersten Stockwerk eines Renaissancebaus am Stary Rynek 41, dem Alten Markt von Poznań eingerichtet ist. Seit einigen Jahren präsentiert das von Szymon Walter gegründete Museum die mehr als 150-jähirge Geschichte des Martinshörnchens, natürlich auch mit der Hufeisenform-Variante. An der Wand des Vorführungssaals hängt zudem ein Großgemälde mit dem heiligen Martin, der mit seinem Schwert den Mantel zerteilt und einem Armen gibt. Die hier in Polnisch und Englisch veranstalteten interaktiven Shows sind indes nicht nur der Herstellung des Martinshörnchens, sondern auch der Bewahrung des alten Dialekts von Poznań gewidmet.
Ein besonderer Clou ist die morgendliche 11-Uhr-Vorstellung. Denn um Schlag 12 Uhr öffnen die Martinshörnchen-Bewahrer die Fenster des Museums und geben den Blick frei auf die Rathausuhr mit den sich darüber dann streitenden zwei Ziegenbockfiguren Tyrek und Pyrek. Einen besseren Standort für ein Foto dieser Attraktion kann man kaum finden. Am Ende der Show erhält jeder Teilnehmer eine Urkunde sowie ein Stückchen Martinshörnchen. Diese Martinshörnchen stammen von „gleich um die Ecke“. Denn Partner des Museums ist die seit 1908 existierende Bäckerei Fawor, die nur 50 m vom Museum entfernt an der ul. Wielka 24 eine Filiale unterhält.
Unterhalb des Museums öffnet auch das Restauracja Caffe „Vis a Vis Koziolków“ am Stary Rynek 40. Auch dies Café mit schöner Terrasse öffnet direkt gegenüber der Hauptfassade des Alten Rathaus von Poznań und verwöhnt mit Cappuccino, Apfelkuchen mit Sahne, Eis und Beeren oder eben auch frischen Martinshörnchen. Beste Adresse für den Kauf von Martinshörnchen sind indes die Filialen der Bäckerei „Cukiernia Elite“. Hier kostet ein Martinshörnchen 10,70 Zloty, ca. 2,50 Euro.
Und natürlich kann man Martinshörnchen auch auf den Weihnachtsmärkten in Poznań erwerben. In diesem Jahr findet der Hauptmarkt nicht auf dem Stary Rynek statt, weil dieser renoviert wird. Man weicht auf den nahen Plac Wolności (Freiheitsplatz) aus. Und natürlich stets ein Tipp ist der Weihnachtsmarkt entlang der ul. Święty Marcin (Sankt-Martin-Straße).
Information:
Polnisches Fremdenverkehrsamt, www.polen.travel
Übernachten:
Hampton by Hilton Poznań Old Town***, www.poznanoldtown.hamptonbyhilton.com
Martinshörnchen naschen:
Restauracja Caffe „Vis a Vis Koziolków“, www.facebook.com/VisAVisKoziolkow/
Attraktion:
Rogalowe Muzeum Poznańia (Martinshörnchen-Museum Poznań), www.rogalowemuzeum.pl/en/
Fotos: Ellen Spielmann