Eigentlich ist dies eine Überraschung: Denn die Eigner dieses gerade 100.000 Flaschen jährlich abfüllenden Familienunternehmens sind keine Einheimische: Sie stammen aus Genua. Allerdings: Die Leidenschaft der Familie geht schon auf das Jahr 1962 zurück. Damals erfüllte sich Weingutgründer Egidio Corradi seinen Traum, selbst Vino Nobile zu produzieren. Dabei war dem in Ökonomie und Handel promovierten Egidio die Leidenschaft für den Wein keineswegs in die Wiege gelegt. Also erwarb der international erfolgreiche Broker erst einmal zwei kleine, halbverlassene Güter in einem der schönsten Winkel der Toskana: in Cervognano di Montepulciano. Dort wurde nur auf einem kleinen Teil des Landes Wein angebaut.
Den nächsten Schritt wagten dann Tochter Paola Corradi und ihr Gatte Ippolito De Ferrari, die die Vision des Gründers fortführten und in den 1960er Jahren die Poderi Boscarelli, die Landgüter Boscarelli aufbauten. Die zwei bepflanzten die ersten Weinberge, bauten den ersten Weinkeller, die Cantina, indem sie die alten Stallungen umbauten. Richtig los auf den Poderi Boscarelli ging es daher erst 1967, als die ersten Flaschen abgefüllt wurden. Es waren gerade 2000!
Doch der Aufbau verlief nicht ohne Rückschläge. 1983 übernahm Paola Corradi De Ferrari die alleinige Führung des Gutes, Ihr Mann war nach einem Autounfall verstorben. Und mit ihr entdeckten die Söhne Luca und Nicolò, damals 13 und 16 Jahre alt, die Vorzüge des Weinbaus. Und so sind sie es heute, die in dritter Generation die Poderi Boscarelli führen. Luca De Ferrari, der Politologie studiert hatte und eine Karriere im diplomatischen Dienst anstrebte, entschied sich schon ab 1988 für die Toskana. Nicolò De Ferrari, längst Architekt, folgte ein wenig später: 1997.
Heute stehen sie für die Passion und Leidenschaft, mit der die Poderi Boscarelli ihre Weine naturschonend und mit minimalen Eingriffen zu höchste Qualität führen. Ziel ist es, die visionären Vorgaben des Großvaters zu erfüllen: In jeder einzelnen Flasche jene Aromen und Geschmacksnoten einzufangen, die Großvater Egidio so liebte.
Und so gehört den gerade 15 ha kultivierter Weinberge (13,5 ha in Montepulciano, 1,5 ha in Cortona) die allerhöchste Aufmerksamkeit. 80 % der Rebstöcke sind natürlich dem Sangiovese vorbehalten. Aber auch Canaiolo, Colorino, Mammolo werden angebaut. Zudem gibt es seit 2006 2 ha, die dem Merlot gewidmet sind, wo die Trauben für Boscarellis erstklassige reine Merlot-Weine gedeihen. Hinzu kamen inzwischen auch Malvasia Nera, Cabernet und Carménère.
80 Prozent der abgefüllten Weine sind natürlich dem Vino Nobile gewidmet. 55 000 Flaschen jährlich gelangen von der Annata, dem Jahrgangswein des Vino Nobile di Montepulciano aus (größter Teil Sangiovese, dazu Canaiolo und Colorino); auf den Markt. Und dann gibt es natürlich auf der Basis von Alterung und Selektion noch diverse weitere Spitzenweine dazu: 10.000 Flaschen werden vom herrlichen Vino Nobile di Montepulciano Riserva abgefüllt, dessen Trauben ausschließlich von Weinbergen stammen, die mindestens 25 Jahre alt sind. 5000 Flaschen sind für die Riserva „Sotto Casa“ reserviert, die sich aus Sangiovese, Merlot und Cabernet zusammensetzt.
Und weitere 5000 Flaschen füllt auch der sagenhafte „Nocio“ („Walnussbaum“), ein reiner Sangiovese, dessen Trauben auf parzellierten drei Hektar in optimalster Lage wachsen. Aber dazu später mehr. Nur in den allerbesten Jahren werden 2000 Flaschen der Spezialabfüllung „Boscarelli di Boscarelli“ ediert, der hauptsächlich aus Cabernet und Merlot besteht. Schließlich umfasst die Produktion auch noch ca. 25.000 bis 30.000 Flaschen Rosso di Montepulciano „Prugnolo“ sowie Rosso De Ferrari IGT, zwei junge Weine, die mit der gleichen speziellen „Prugnolo“-Sangiovese-Traube wie der berühmte Vino Nobile erzeugt werden, allerdings nicht in Holz reifen. Natürlich produziert Boscarelli auch jährlich eine kleine Menge an hervorragendem Olivenöl und dazu herausragenden Grappa di Vino Nobile, von dem allerdings nur einige hundert Flaschen jährlich abgefüllt werden.
Und dann ist da natürlich noch der Vin Santo, dessen Name perfekt zur Hausphilosophie der De Ferrari passt: Dieser Familiae „Occhio di Pernice“ Vin Santo di Montepulciano DOC wird nach den besten toskanischen Vin Santo-Traditionen hergestellt. Als „Auge des Rebhuhns“ (Occhio di Pernice) wird er hauptsächlich aus Sangiovese-Trauben gewonnen, um dann in kleinen versiegelten Holzfässchen von 20 bis 50 l Größe mindestens vier bis fünf Jahre zu lagern, ehe man ans Öffnen denken sollte. Ideal sind sogar acht Jahre. Und so ist der gerade angebotene „Familiae“ Vin Santo 2010 (0,5-l-Flasche für ca. 37 €) im perfekten Alter!
Und natürlich steht „Familiae“ auch für die nun schon über die Generationen gepflegte Weinbauphilosophie der De Ferrari, die sich eng an die Familienwurzeln in Genua anlehnt. Doch in Cervognano di Montepulciano mit den im Schnitt 35 Jahre alten Weinbergen der Poderi Boscarelli hat sie längst einen neuen Lebensmittelpunkt gefunden. Geblieben ist die absolute Hingabe an den Weinbau, um dank größtmöglicher Variabilität auch größtmögliche Komplexität der Weine zu erreichen. Dafür stehen die Grand Dame, Signora Paola, und natürlich auch Luca und Nicolò De Ferrari, die Önologin des Weingutes, die Dottoressa Mary, und der historische Berater und Önologe des Gutes, Dottore Maurizio Castelli, seit 1984 dabei. Die Basis gibt natürlich das Terroir vor – bestes historisches DOCG-Land für den Vino Nobile, in 300 m Höhe, in Ost-Nordostlage von Montepulciano Richtung Valdichiana.
Und dann sind natürlich die Weine das beste Argument: z. B. Boscarellis Vino Nobile di Montepulciano DOCG 2017! Seit 1968 produziert Boscarleli diesen Vino Nobile, der in der Edition 2017 für 22 € für die 0,75-l-Flasche angeboten wird. Sein Vorgänger, der Boscarelli Vino Nobile di Montepulciano DOCG 2016, erzielte schon 94 Punkte und beim Wine Spectator in der Liste der 100 besten Weine (Platz 39; im Onlinehandel für ca. 37 €). Aber auch den 2017er zeichnen Frische und Eleganz, Komplexität und eine hohe Langlebigkeit aus.
Die Trauben stammen von mindestens 10 Jahre alten Weinbergen. Der Vino Nobile aus 85% Sangiovese Prugnolo Gentile sowie 15% Colorino, Canaiolo und Mammolo musste vor der Abfüllung erst einmal 18 bis 24 Monate in Eichenfässer (Allier und slawonische Eiche) von 5 bis 35 Hektoliter Fassungsvermögen und ist ohne Frage ein Aushängeschild für diesen in der gesamten Toskana durchaus auch schwierigen Jahrgang.
Eine ganz andere Hausnummer ist dann Boscarellis Vino Nobile di Montepulciano DOCG „Il Nocio“ 2016! Seit 1988 ist die „Vigna del Nocio“, der Walnussbaumweinberg, im Besitz der Familie. Auf den 4 Hektar in 280 bis 350 m Höhe mit sandigem Untergrund werden seit 1991 Reben des Sangiovese Prugnolo Gentile angebaut, der eben allerbeste Voraussetzungen für Eleganz und Komplexität mit sich bringt. Die Selektion der Trauben findet schon im Weinberg statt. Dieser prachtvolle reine Sangiovese Prugnolo Gentile entsteht aus diversen Cuvée von den Nocio-Lagen, die in Eiche (französische und slawonische Eiche) in 5- oder 10 Hektoliter-Fässern 18 bis 24 Monate reifen. Danach muss „Il Nocio“ noch ein ganzes Jahr in die Flasche, eher er die Marktreife erreicht.
Das Resultat ist phantastisch, hat aber auch seinen Preis: Um die 80 € werden für diesen Prachtwein aufgerufen. Und obschon er nun erst gerade auf dem Markt ist, sollte man sich beim Kaufentscheid sputen. Denn dieser fruchtig süße, frische, blumige wie raffinierte reine und damit auch wirklich „adlige“ Vino Nobile Prugnolo Gentile wird rasch seine Liebhaber finden! Und da der Boscarelli „Il Nocio“ nun als Emblem für das Terroir von Boscarelli gilt, wird er rasch zum rar zu findenden Flaggschiff dieser kleinen, aber feinen Weingüter Boscarelli aufsteigen. Umso besser, dass er auf den Poderi Boscarelli bei Degustationen angeboten wird. Und seine Langlebigkeit ist garantiert.
Information:
Poderi Boscarelli, www.poderiboscarelli.com
Fotos: Poderi Boscarelli