Lumbung-Werte, -Wissen, -Praxis, – Netzwerk definieren und beschreiben das Konzept der diesjährigen internationalen Kunst-Show in Kassel: Es setzt auf Gemeinschaft, ökologisches Handeln und Wirtschaften und auf experimentelle Ästhetik. Eine weitere wichtige Vokabel ist Nongkrong: das indonesische Slang-Wort aus Jakarta lässt sich am besten mit „gemeinsam abhängen“ übersetzen, nicht passiv konsumieren, sondern Teilhaben; Mitmachen etwa durch Singen, Tanzen, Reden, Zusammenkommen, gemeinsam Essen ist Programm. Die D 15 markiert vor allem einen Generationswechsel.
Viele Stimmen der Öffentlichkeit beschwören angesichts dieses experimentellen Formats einmal mehr das Ende der Kunst. Eine Kunstauffassung, die im betont lockeren Slogan der Lumbung Indonesia Kuratoren „No art make friends“ daherkommt schockiert Teile der Kunstszene und -kritik.
Bis heute tut man sich in Deutschland und dem sogenannten Westen teils schwer damit, einen anderen als den auf Autorschaft und Werk basierenden Kunstbegriff zu akzeptieren. Tragisch und sehr schade, dass gerade dieses eigenständige Unternehmen Documenta 15, das mit frischem Wind in den Segeln startete und wie die Documenta-Vorgänger (Catherine David, 1997) und Okwui Enwezor (2002) in postkolonialer Theorie und Praxis verankert ist, nun mit dem Makel des Antisemitismus behaftet ist und auch so in die Geschichte eingehen wird.
Lange vor der Eröffnung der Documenta 15 schürten einige Kräfte und Medienvertreter in der Öffentlichkeit den Generalverdacht Mitglieder des Kuratoren-Teams seien anti-semitisch aufgrund der Berührung oder Unterstützung mit der in Deutschland geächteten Bewegung BDS (Boykott, Divestment and Sanctions), die u.a. zum Boykott israelischer Produkte aufruft. Akribisches Scannen der Ausstellungsobjekte brachte ein paar Grenzfälle im Bereich Film zutage. Ihnen konnten anti-semitische Tendenzen nachgesagt werden, sie sind aber im Kern nicht anti-semitisch. Gleiches gilt für eine Broschüre, die Ende Juli unter die Lupe genommen wurde. Anders lag es im Fall des sogenannten „Wimmelbilds“, einem großformatigen (9 x 12 m) Agit-Prop-Wandbild „People´s Justice“ des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, das Männchen – Soldaten mit Schweinegesichtern und Mossad-Helmen sowie einen Juden mit Zigarre, SS-Zeichen auf der Kopfbedeckung und Schläfenlocke – als Karikaturen darstellt. Hier tritt Antisemitismus bildlich zutage.
Unprofessioneller Umgang der Documenta-Leitung, deren Chefin keine Kuratoren-Kompetenz hat, verschärften die Krise. Das Wandbild wurde aus der Ausstellung entfernt, die öffentlichen Entschuldigungen des Kuratoren-Kollektivs wurden systematisch überhört, der „antisemitische Mega-Gau“, so der Kunstkritiker Ingo Arendt. sei nicht mehr abzuwenden. Erfreulicherweise widmete die internationale Presse, z.B. New York Times den Künstlern und Künstlerinnen der D15 mehr Raum als der teils unsäglichen um sich selbst kreisenden nicht endenden deutschen Debatte.
Stipp-Visite in Fridericianum, Documenta-Halle und Karlsaue
Für den Rundgang auf der d 15 empfiehlt es sich im Quartier des Kuratoren-Teams ruangrupa vorbeizuschauen. Hier im ruru-Haus (ruru ist indonesisch und bedeutet Raum), dem zentralen Wohnzimmer der Stadt, ist nongkrong angesagt: kreative Interaktion und abhängen, aber auch stöbern in der exzellenten temporären Buchhandlung. Vis-à-vis liegt der Friedrichplatz, benannt nach dem hessischen Landgrafen, Sammler und Förderer der Künste. Er ließ 1799 das Fridericianum errichten, eines der ersten öffentlichen Museen weltweit. Seit 1955 ist es Ausstellungsraum der Documenta. Am Eingang des Gebäudes grüßen die schwarz verhüllten Säulen mit Piktogrammen und slogans wie „I am not exotic, I am exhausted“ von Dan Perjovschi (Rumänien). Wunderschön und ausdrucksstark sind die großen bunten Wandtextilkollagen aus der Serie „Out of Egypt“ (2021) der polnischen Roma-Künstlerin Małgorzata Mirga Tas im 1. Obergeschoss. Sie zeigen Alltagsszenen aus der Welt der Roma-Frauen.
Ein Kollektiv syrischer Filmemacher aus Rojava, dem autonomen Gebiet im Norden Syriens, lädt ein auf Teppichen Platz zu nehmen und das reiche musikalische kurdisch-syrische Erbe in einem Video (2018) kennenzulernen. Kommentare der Protagonisten und Protagonistinnen liefern einen crash-Kurs über ihre orale Kultur und leidgeprägte Geschichte. Auf dem Friedrichplatz hat die australische Aboriginal Embassy in einem Zelt ihren Sitz aufgeschlagen. Filme und Plakate des politisch engagierten Künstlers Richard Bell, der zur Gemeinschaft der Kamilaroi, Kooma, Jiman und Gurang Gurang gehört, erzählen vom Kampf der australischen Aborigines gegen die Unrechts-Politik seit 1960. Ein wichtiges Moment sind die exakt kalkulierten Schulden, die die australische Regierung gegenüber den Aborigines seit der Invasion 1901 anhäuft. Bells Kunstaktion „Metronome“ (2022) ermittelt und zeigt im Sekundentakt die steigende Zahl in roten Leuchtbuchstaben auf dem LED-Laufband für jeden gut sichtbar an der linken Fassade des Fridericianum.
Am Rande des Friedrichsplatz lädt im Schatten einer Eichenbaumallee der Documenta Food Market zum Speisen und Trinken ein. Zuckerrohrsaft frisch gepresst, Drinks, ofenfrische Pizza und kulinarische Produkte aus regional biologischem Anbau werden in Food Trucks und Lastenrädern angeboten, auch abends nach Ausstellungsschluss herrscht hier ein fröhliches Treiben.
Nah, aber durch eine stark befahrene Autostraße getrennt, liegt der Theatervorplatz, traditioneller Ausstellungsraum der Documenta. Der Bund Deutscher Architektinnen und Architekten stellt hier das Kohlemuseum aus. Kohlebriketts bilden einen Raum, der grüne Pflanzen beherbergt. Sie können von Besuchern gegossen werden. „Kohle jetzt ins Museum und nicht erst 2038. Nutzen wir die regenerative Kraft der Erde und der Pflanzen“, lautet die Botschaft der Architekten.
Fotos: Harandane Dicko, INSTAR