Aktuell gehe es dem Ruchè gerade vor Ort, im Piemont, so wie dem Prosecco vor zehn bis zwölf Jahren: In den Weinbars und Restaurants von Turin oder in der Provinz Asti ist der ‚Ruchè (sprich: „Rukkee“), aktuell zum absoluten Kultwein avanciert. Man wird nicht müde, diesen herrlichen Rotwein als „Monferrato Barolo“, als Barolo aus dem Monferrato zu bejubeln. Und auch außerhalb des Piemont hat der Wein, dessen internationale Vermarktung erst 2002 begann, längst seinen Siegeszug angetreten. Vor allem in den USA und in Asien wird er hoch geschätzt. In Europa kennt man vor allem in der Schweiz. Aber dies soll sich nun ebenfalls ändern. Daher lud die Vereinigung der Produzenten des Ruchè di Castagnole Monferrato Mitte Dezember 2021 zur internationalen Zoom-Konferenz, um einige jener Ruchè-Weine vorzustellen, die längst die magische 90-Punkte-Grenze in die Liga der weltbesten Topweine überwunden haben.
Dabei hat es die Rebsorte des Ruchè di Castagnole Monferrato erst einmal nicht leicht: Denn sie wird und darf nur in sieben Gemeinden angebaut und vinifiziert werden: in Castagnole Monferrato und den Dörfern Montemagno, Grana, Portacomaro, Refrancore, Scurzolengo und Viarigi, sämtlich in der piemontesischen Provinz Asti gelegen. Der Grund ist natürlich, dass dieses Weingebiet, eines der kleinsten in Italien, geschützt ist. Schon 1987 erreichte man den Status DOC, seit 2010 ist der Ruchè als DOCG geschützt. Und seit 2020 gilt dies auch neu für den Ruchè Riserva DOCG, der vor der Marktreife mindestens 24 Monate gelagert sein muss. Verantwortlich für den ersten DOC-Schutz und die damit verbundene deutliche Aufwertung des Ruchè war 1987 die damalige Bürgermeisterin von Castagnole Monferrato, Lidia Bianco – natürlich im Einverständnis der Ruchè-Winzer ihrer gerade 1171 Einwohner zählenden Gemeinde.
Damals dachte man vor allem daran, dass der Ruchè einen Teil der lokalen Identität und der wunderbaren Kulturlandschaft des Monferrato repräsentiert, das gemeinsam mit den Gebieten Roero und Langhe seit 2014 auch UNESCO-Welterbe ist. Und der Ruchè galt damals als „Wein für besondere Gelegenheiten“, wurde für spezielle Feiern und für die Lieben daheim aufbewahrt. Traditionell wurde er auch als Dessertwein zu einem weiteren örtlichen kulinarischen Hit, dem Haselnusskuchen aus Castagnole Monferrato gereicht. Heute schätzt man ihn in Asien auch dafür, dass er besonders gut zur asiatischen Küche passt.
Eigentlicher Wiederentdecker der uralten Rebsorte des Ruchè war hingegen Don Giacomo Cauda! Der 1927 ganz in der Nähe, in Cisterna d`Asti, einem Ort an der Grenze zwischen Roero und Monferrato geborene Cauda kam in den 1960er Jahren als Priester nach Castagnole Monferrato. Dort fand der seit frühester Kindheit mit dem Weinbau vertraute Don Cauda als eine Art „Mitgift der Pfarrei“ einige nahezu aufgegebene Reihen Rebstöcke mit Grignolino, Barbera und Ruchè, die er flugs rettete. Schon im zweiten Jahr gelang ihm dann die Abfüllung von 28 Flaschen. Doch nur der Inhalt einer einzigen schmeckte ihm tatsächlich. Dies war eine Flasche Ruchè, der er einen perfekten Körper und eine Balance einzigartiger Aromen, Buketts und Duftnoten attestierte. In moderaten Maßen getrunken, befand Don Giacomo, befreie der Ruchè den Geist und öffne den Verstand.
Flugs kaufte Don Giacomo einen Hektar Land und pflanzte 4000 Rebstöcke dieser nahezu vergessenen Rebsorte Ruchè. Seine Entscheidung, diese alte lokale Tradition wiederzubeleben diente letztlich aber auch dazu, Die Dorfgeschichte zu bewahren. Später, als man Don Giacomo Cauda längst zum „Dom Pérignon des Monferrato“ gekürt hatte, wurde auch schmunzelnd kolportiert, der gute Don Giacomo sei wohl öfter im Weinberg als in der Kirche anzutreffen gewesen. In seinen letzten Lebensjahren nahm Don Giacomo dies aber gelassen: „.Der Herr möge mir verzeihen, dass ich manchmal mein Amt vernachlässigt habe, um mich mit Leib und Seele dem Weinberg zu widmen. Nach der Messe rannte ich gewöhnlich heraus um mich umzukleiden und auf meinen Traktor zu kommen. Aber ich weiß, Gott wird mir vergeben, weil ich mit dem Geld, das mit dem Wein verdient wurde, die Pfarrgemeinde aufbaute und das Pfarrhaus renovierte.“
Eine ganze Reihe örtlicher Winzer taten es ihrem Pfarrer gleich. Und so wurde 2001 offiziell die Vereinigung der Produzenten des Ruchè gegründet, der heute 21 Winzer angehören. Sie repräsentieren 90 Prozent des Ruchè-Anbau in Castagnole Monferrato und Umgebung, wo sich insgesamt 30 Winzer, von denen 27 auch abfüllen, um den Ruchè kümmern. Die Vereinigung repräsentiert 185 Hektar Ruchè-Weinberge, insgesamt sind es 190 ha. 2020 füllte man insgesamt 959 384 Flaschen dieses edlen Tropfen ab – tatsächlich ein Nischenmarkt, aber ein hochinteressanter für Genießer und Gourmets. Und er wird dies wohl bleiben: Denn es kommen pro Jahr nur etwa 5 Hektar Anbaufläche hinzu. Und es werden pro Jahr auch nur etwa 5 Prozent mehr Flaschen abgefüllt. Damit sei man im Verhältnis Anbaufläche zu abgefüllten Flaschen in Piemont die Nummer Eins, in Italien unter den Top 3, so Luca Ferraris. Und dies werde alle 3 Monate überprüft. Dennoch wird wohl bald die Millionengrenze geknackt werden – allerdings gemächlich! Der Abverkauf ist indes enorm: Im Corona-Jahr 2020 wurde genauso viel veräußert wie in den Jahren zuvor, 2021 waren es sogar 6 Prozent mehr.
Dabei hat es der Ruchè von Haus aus eher nicht leicht! Er gedeiht in 150 bis 350 m Höhe am besten auf Weinbergen in Südwestlage. Und er profitiert vom Terroir, vom kalkhaltigen Sandstein und von zig Fossilien eines Millionen Jahre zuvor entstandenen Meeresbodens, die ihm seine Mineralität und auch seine Frische verleihen. Der Ruchè liebt heiße, trockene Sommer, was stets zu einer frühen Ernte Anfang/Mitte September führt, einen Monat früher als die anderen Rebsorten des Piemont.
Aber dies ist manchmal auch seien Achillesferse: Denn aufgrund des Zuckergehalts entsteht auch ein hoher Alkoholgehalt. So erreichte der 2021-er Jahrgang mühelos 15,5 %. Auf die Frage, wie man dies Problem gelöst habe, muss Luca Ferraris schmunzeln: „Wir arbeiten noch daran.“ Nachteile sieht er aber für den Ruchè nicht. Klar, in Nordeuropa wird womöglich eine höhere Steuerabgabe fällig. Aber die Liebhaber des Ruchè setzen auf seine Qualität und nicht auf den Alkoholgehalt. Zudem: Im katastrophalen Weinjahr 2002 habe man gesehen, dass der Ruchè sich behaupten konnte, während der Barbera damals Mühe gehabt habe, überhaupt 10 % Alkoholgehalt zu erreichen. Und auch die zurückliegenden Jahrgänge waren äußerst zufriedenstellend. Top war das Weinjahr 2017 mit trockenen, heißem Sommer.
Und die Jahrgänge 2018 und 2019 gleichen sich in ihrer guten bis sehr guten Qualität. 2020 sei eine schwierige Ernte zu verzeichnen, die man aber mit Bravour gemeistert habe. Schließlich kämpfte man 2021 im April mit strengem Frost, wobei man 30 Prozent der quantitativen Traubenmenge verlor. Dennoch wird es wohl ein grandioser, kraftvoller Jahrgang werden.
Und natürlich hat der Ruchè auch einen Blick auf seinen Namen verdient. Am populärsten ist die Erzählung, dass Don Giacomos Kirche „San Rocco“ oder ein nahes Benediktinerkloster San Rocco Pate standen. Schon im Mittelalter sollen hier Zisterziensermönche erste Rebstöcke gesetzt und diese dem heiligen Rochus gewidmet haben. Ganz rational erklären indes andere den Namen: Sie leiten ihn von „Rocce“ ab, jenen steilen, felsigen Hängen, die die Rebsorte so schätzt. Und tatsächlich betrachtet man heute die Ruchè-Weinberge auch als „Hüter des Territoriums“! Denn die Erde der Weinberge tendiert auf natürliche Weise dazu, gen Süden zu rutschen. Dank ihrer Wurzeln verhindern die Rebstöcke dies und verhindern so die Bodenerosion. Zudem sind die Ruchè-Weinberge fundamental zum Erhalt der Biodiversität im Monferrato und binden große Mengen Kohlendioxid.
Schließlich traten 2016 Wissenschaftler aus Turin auf den Plan. Durch die Analyse der Genome entpuppte sich der Ruchè als historische Kreuzung zwischen der Croatina-Rebsorte und der aromatischen Rebsorte Malvasia di Parma, die heute gar nicht mehr in Italien angebaut wird. Und letzterer Rebsorte dürfte auch der Ruchè sein phantastisches Aroma verdanken.
Fotos: Associazione Produttori del Ruchè di Castagnole Monferrato DOCG