Der große Raum mit der recht niedrigen Holzdecke ist voller Gäste, auch an einem Mittwochabend. Offene Küche, große Fensterfronten, Holztische. Dezent, stilvoll, ohne die überladene Opulenz mancher Lokale in den Metropolen Europas oder Nordamerikas. Eben nordisch-minimalistisch. Understatement gehört zur Philosophie des „Dill“.
So auch auf den Tellern. Kein Getue, kein Chi-Chi. Das Produkt, ob Fisch, Fleisch oder Gemüse, steht für immer im Vordergrund, es soll sich voll entfalten können. Chefkoch und Inhaber Gunnar Karl Gislason und sein Team greifen dabei gerne auf alte Rezepte zurück, von der Großmutter bis zu den Wikingern, und verleihen ihnen einen modernen Touch.
Längst hat der Guide Michelin auch die Gefilde knapp unterhalb des nördlichen Polarkreises erreicht. Drei Sterne-Lokale gibt es inzwischen in Island, zwei davon in Reykjavik. Doch nur über dem „Dill“, das 2009 öffnete, leuchtet in Island bisher der grüne Stern für besondere Nachhaltigkeit.
Hier erwartet den Gast eine kreative, nordische Küche, mit überwiegend regionalen und oft sehr traditionellen Zutaten in bester Qualität, von ausgewählten Produzenten, ob Fischer oder Farmer. Das mehrgängige Menü ist durchweg hervorragend und für isländische Verhältnisse auch noch sehr fair kalkuliert. Gerne drapiert man die Gerichte auf Steinen oder Blättern, eine Hommage an die raue isländische Natur. In ihrer ganzen Vielfalt. Fast tut es weh, diese kleinen Kunstwerke mit dem Besteck zu beschädigen. Obwohl sich, wie angeblich sonst auf der Insel, Elfen oder Trolle wohl kaum unter dem Mini-Geröll verbergen dürften.
Umso mehr zeigen Meeresbewohner hier Flagge. In ihrer gesamten Vielfalt. Kein Wunder, der Atlantische Ozean ist immer nahe und gerade bei Island sehr sauber. Der warme Golfstrom trifft auf kalte Strömungen aus Grönland, was für einen immensen Fischreichtum sorgt. Schuppen- wie und Krustentiere sind frisch und von ausgezeichneter Qualität. So auch der geräucherte Schellfisch, der hier als Vorspeise mit Skyr serviert wird. Das Milchprodukt, arm an Fett, reich an Proteinen, ist auf der Insel allgegenwärtig und hat auch längst hier die Supermarktregale erobert. Sein Aroma, das an eine Mischung aus Magerquark und Joghurt erinnert, paart sich bestens mit dem kräftigen Eigengeschmack, für den der Schellfisch bekannt ist, samt der Räuchernote.
Ausgezeichnet auch die Jakobsmuschel, hier zur Abwechslung einmal kalt serviert. Grüne Johannisbeeren, Kräuter und ein wenig Salz ergänzen vollendet das nussige Aroma des Fleisches. Die Muschel stammt aus Isarfjörur („Eisfjord“), aus der Westfjord-Region im äußersten Nordwesten Islands, und wurde von einem Taucher gefischt. Aus 30 Metern Tiefe, wie ein freundlicher Mitarbeiter versichert. Und gleich noch einmal nachschenkt. Der Service entspricht der Qualität der Speisen, gleich mehrere dienstbare Geister umsorgen den Gast. Unaufdringlich, aber immer aufmerksam.
Dass BBQ auch mit Miesmuscheln funktioniert, beweist der nächste Gang. Hier paart sich das rauchige Barbecue-Aroma mit der für die Muschelart typischen Süße. Man muss ja nicht immer nur Nackensteaks oder Hamburger auf den Grill legen.
Auch Seeteufel wird serviert, in zwei Gängen, beide köstlich. Zunächst die Bäckchen, mit einem Puder aus „sea truffles“, einer besonderen Algenart aus dem Atlantik, die in dichten Büscheln vor allem an Wracks wächst. Dann ein Filet mit Steckrüben-Püree und zerlassener brauner Butter, ein wirklicher Höhepunkt.
Vom Meer geht es in den Wald. Zumindest zwischendurch. Wird doch zu dem Brot Fichtenbutter serviert. Aufgeschlagen, mit Fichtennadeln und Fichtenessig. Eine sehr originelle Variante. Das traditionelle schwedische Öland-Mehl, mit einem hohen Protein- und Gluten-Anteil, verleiht dem Brot seine lockere Konsistenz und sein besonderes Aroma.
Zu den verschiedenen Gängen gibt es neben den üblichen Wein-Empfehlungen auch ein nicht alkoholisches Pairing. Dazu gehört auch der Aperitif, aus Kopenhagen. Sieht aus wie Champagner, ist aber eine Art sprudelnder Tee. Eben „Sparkling Tea“, mit zugesetzter Kohlensäure. Alkoholfrei, biologisch. Gleich mehrere Sorten gibt es, an diesem Abend fließt „Bla“ ins Glas. Weich, elegant, mit Noten von Jasmin und Kamille, zugleich sehr erfrischend. Neben Trauben- und einem Schuss Zitronensaft sorgen zwölf verschiedenen Teesorten, Grün-, Weiß-, Schwarz- und Kräutertees, ausgewählt von dem preisgekrönten dänischen Sommelier Jacob Kocemba, für eine hohe Komplexität. Um den perfekten Geschmack zu erzielen, werden die Teeblätter über einen längeren Zeitraum in heißem und kaltem Wasser eingeweicht.
Weiter geht es mit Kombucha, aus Reykjavik, zu jedem Gang eine andere Sorte. Wer hätte eine solche Vielfalt für möglich gehalten? Etwa „Black Tea“, mit dem Aroma von Blaubeeren und einem Hauch von Seetang. Oder „Hops“, bierartig, mit ein wenig Schaum und einer schönen Hopfen- und Zitronennote. So abwechslungsreich wie gesund und bekömmlich. Stammt aus einer Garage nahe der Stadt, so ein Mitarbeiter. Ein Start Up, der Erzeuger hat gerade angefangen, das „Dill“ ist bisher der einzige Kunde.
Eine originelle Idee, die zu sämtlichen Gerichten passt. Auch zu den Roastbeef-Scheiben mit Liebstöckel. Ein wirklicher Genuss, schon durch den intensiven Eigengeschmack des Fleisches. So auch die Rippchen mit „Flatkaka“, dem traditionellen Flachbrot, sowie Rhabarber.
Kaum zu übertreffen, wären da nicht die vegetarischen Gerichte. Gerade die blauen Kartoffeln mit einem Schaum aus Kartoffeln, Dill und saurer Sahne alleine lohnen beinahe die Reise nach Island. Sehr gut auch die Pastinake mit Kaviar und Rapsöl.
Zum Glück sind die Portionen so bemessen, dass das Menü auch bei normalem Appetit gut zu bewältigen ist. So ist auch Raum für das Dessert, besser, die Desserts. Etwa die kleine Eistüte aus Pilzen und Kakao, gefüllt mit einem Hafer-Schokoladen-Cremeux. Dazu ein Kompott aus Steinbeeren, eine für Island typische Beerenart, die nach Johannisbeeren schmeckt.
Und dann folgt der Donnerschlag. Eine Praline, gefüllt mit fermentierten Blaubeeren und Birkenschnaps. Eine Explosion der Aromen. Die Blätter auf dem Teller sind mehr als bloße Deko. Sie stammen von dem Hersteller, der daraus den Birkenschnaps macht. Fazit: ein gelungener Abend, legendär und sagenhaft.
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Fotos: Fritz-Hermann Köser