Lifestyle

„Nonkrong“ und „Lumbung“ bei der Documenta 15 in Kassel (Teil 2)

Innen präsentiert das Künstlerkollektiv eine Multimedia-Installation Wakija Kwetu (When they come to your place, 2022), die auf Alltagserfahrungen, Gewalt im Slum und deren Bewältigung durch künstlerische Arbeit rekurriert. Einen zentralen Raum der Documenta-Halle nimmt die Gruppe kubanischer Künstler und Aktivisten rund um das Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR) aus Havanna ein. Sie stehen für einen ganz spezifischen Fall lateinamerikanischer Rezeption der gefeierten Philosophin, Autorin von „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ (1951). Arendts Begriff des Aktivismus, des politischen Handels, des Protests für individuelle Freiheit wird von der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera, Initiatorin der Gruppe, übernommen und auf Kunstschaffen übertragen. Eine der Protest- Kunstaktion der 2014-2015 entstanden Gruppe bestand aus einer kollektiven Marathonlesung des Werks von Hannah Arendt. Es kam zu Zensur und Verhaftungen. Bruguera sah sich gezwungen die Insel zu verlassen, sie unterrichtet zurzeit an der Harvard University in den USA.

Unter dem Titel „Manera de marchar adelante“ (Art und Weise vorwärts zu marschieren) wird in der d 15 in Kassel das repressive Moment der so gefeierten kubanischen Revolution aufs Korn genommen. Eine Installation, die „Liste zensierter Künstler und Intellektueller 1959-2022“, prangert die Praxis der Zensur, Stigmatisierung und Kriminalisierung kubanischer Künstler durch das kubanische Regime an. Puppen Holzstöcken mit Textilmasken, die aus Drucken mit den Gesichtern der zurzeit inhaftierten Künstler und Intellektuellen bestehen, bevölkern einen Ausstellungsraum. Ihre Namen stehen ornamental geordnet an der Wand. Kleine bemalte Papp-Boxen reihen sich auf Wandbrettern. Es sind gebastelte Miniaturfernseher, deren Bildschirme Szenen öffentlicher Auftritte Fidel Castros und der kubanischen Führungsriege seit der Revolution darstellen. Es gilt die „romantische Vorstellung von Kuba auszutreiben“ und die „wahre Situation“ (derzeit gibt es 1400 politische Gefangene auf Kuba) vorzuführen, kommentiert der Aktivist und Künstler Raychel Carrión im Interview.

Am Ausgang der Documenta-Halle auf der Wiese der Karlsaue (der großen grünen Stadtoase) hat das Künstlerkollektiv Britto Art Trust aus Dhaka, Bangladesch, einen Gemüsegarten und eine Social Kitchen unter freiem Himmel errichtet. Sie soll als Treffpunkt für Menschen aus 100 verschiedenen Nationen dienen, die in Kassel leben. Angeregt wird, Rezepte auszutauschen.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Documenta über die Stammhäuser Fridericianum und Documenta-Halle dezentrale Ausstellungsräume erschließt. Bei der d 8, d 9, d 12 war es eine in der Unterstadt im Osten auf der anderen Seite der Fulda gelegene Örtlichkeit: die ehemalige Tuchfabrik Salzmann. 2002 nutzte Documenta-Leiter Okwui Enwezor die ehemalige Binding Brauerei nahe am Hafen. 2022 wird das historische 1929 erbaute heute unter Denkmalschutz stehende Hallenbad-Ost vom Künstlerkollektiv Taring Padi mit Installationen, Transparenten, Plakaten, Pappfiguren bespielt. Sie entstanden teils in Zusammenarbeiten mit NGOs. Die 1998 in Folge der Suharta Diktatur gegründete studentische Initiative hat ein imminent politisches, teils plakatives Kunstverständnis, was sich in Titeln wie „Flamme der Solidarität“ (2021) niederschlägt.

St. Kunigundis in Kassels Osten, Ausstellungsraum haitianischer Künstler der D 15. Foto: Ellen Spielmann
St. Kunigundis in Kassels Osten, Ausstellungsraum haitianischer Künstler der D 15. Foto: Ellen Spielmann

Anders verhält es sich bei den 30 haitianischen Künstlern der Gruppe Atis Rezistans (Künstler des Widerstands) aus Port-au Prince. Sie stellen ihre Arbeiten, Skulpturen, Multimedia-Installationen, Photographien vor und in der Kirche St. Kunigundis im Industrieviertel Bettenhausen aus. 2009 rief das Künstlerkollektiv der Grande Rue, einem Viertel im Zentrum der haitianischen Hauptstadt, die 1. Ghetto Biennale ins Leben: Filmemacher, Photographen, Musiker, Schriftsteller, Architekten und Akademiker nahmen teil. Ein Jahr später erschütterte das verheerende Erdbeben Haiti. Trotzdem findet die Ghetto Biennale alle 2 Jahre statt. In der Kirche werden u.a. Filme der Ausstellungen gezeigt: „Poetry and Protest“ von der 5. Biennale (2017) ist eine beeindruckende Hommage an den auf Kreolisch schreibenden haitianischen Dichter und Schriftsteller Felix Morisseau Leroy. Sein kreolischer name ist Moriso. Er gilt als Vater der Kreolischen Renaissance. Sein Gedicht „Boat People“ (kreolisch: bot pipil) erzählt von der tragischen Geschichte der Sklaverei, der haitianischen Revolution (dem Aufstand der Sklaven gegen die weißen Kolonialisten) bis in die jüngste Gegenwart: Haitianische Migranten die auf See 1100 km zurücklegen um in die USA zu gelangen. Eine Gedichtzeile lautet: „Alle Amerikaner sind Immigranten, aber sie nennen uns die boat people“.

Unweit der Kirche befindet sich das Industriegelände der Firma Hübner. In einem leeren Produktionsgebäude stellen 13 Künstlerkollektive aus. Das Tuareg Tent, gebaut aus Kuhhautleder, Holzstangen, Seilen und Teppichen der Fondation Festival sur le Niger (Stiftung zur Unterstützung junger Künstler in Mali), lädt zu nonkrong ein. Ein malischer Dokumentarfilm mit Beteiligung der Sängerin und Performerin Fatoumata Coulibaly vermittelt sehr konkret die Werte der Maaya Philosophie, die das Leben der muslimischen Gemeinschaften regelt. Speziell ausgebildete Tänzer, Performer haben u.a. die Aufgabe in Konflikten, z.B. zwischen Eheleuten, zu vermitteln. Hier wird keine Gesprächstherapie praktiziert, sondern durch Rollenspiel, Interaktion und viel Humor – oft kommen Handpuppen zum Einsatz – ein Gleichgewicht wieder hergestellt. Diese Akteure fehlen aber auch bei keinem Fest, sagt einer der Repräsentanten lachend im Film. Das 2011 gegründetes Kollektiv aus Brüssel und Ramallah, „Subversive Film“, das Filmforschung mit Schwerpunkt auf Palästina betreibt, zeigt seine Arbeiten im Hübnergebäude.

Der Kurzfilm „Cowboy“ des ägyptischen Regisseurs Sami Al-Salamo (1973) nimmt sich klassische Szenen der großen Hollywoodfilme vor und konfrontiert die Schlüsselmomente von heroisierter Gewalt und Töten auf geniale Weise mit der Geschichte der Kolonisierung Amerikas, des Genozids an der indigenen Bevölkerung. „Beirut 1982“ (1982) ist das Produkt der japanischen Dokumentarfilmer Ryũichi Hirokawa und Tetsuro Nunokawa. Hirokawa kommentiert als Augenzeuge das Leben der Palästinenser und ihres Widerstands nach den Massakern, die die israelische Armee 1982 in Sabra und Shatila verübte. Es ist ein Film der Solidarität, Anteilnahme und Anklage.

Vor dem Rückweg von Kassels Osten nach Downtown wartet nah der Straßenbahnhaltestelle „Al Wali“ ein syrisch-arabischer Imbiss mit Köstlichkeiten auf. Der syrische immer gut gelaunte Koch Al Wali hat extra für seine temporären Gäste den Documenta-Teller kreiert: Fladenbrot-Wrap gefüllt mit Gemüsepaste, dazu Humus und drei verschiedenen teils pikante Dips und Salat (8, 50€).

Fotos: Ellen Spielmann

Teilen: